Scirocco: Aktuelle Kurzinfos aus Italien
Scirocco [ʃiˈrɔkko-Schirokko] ist ein südöstlicher, heißer starker Wind, der für oftmals nur wenige Stunden Staub und Sand über das Mittelmeer nach Sizilien und Italiens Norden trägt. Diese Kurzinfo erscheint seit März 2021. Seit Juni 2025 in einem neuen Format: Statt einmal im Monat informiert die neue Scirocco-Timeline zeitnah über die neusten politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Italien rund um das Thema Migration.
11. Juli 2025: Arbeitsausbeutung
Borgo Mezzanone: Menschenunwürdige Lebensbedingungen für migrantische Erntehelfer*innen in Süditalien
In der informellen Siedlung Borgo Mezzanone, nahe der Stadt Foggia (Apulien) leben aktuell rund 5.000 Migrant*innen aus Somalia, Nigeria, Ghana, Bangladesch, Pakistan und Syrien. Die meisten von ihnen arbeiten als Tagelöhner*innen in der lokalen Tomatenernte. Durch falsche Versprechungen und illegale Arbeitsvermittlung sind sie in den Ausbeutungsverhältnissen der süditalienischen Landwirtschaft gelandet. Die Lebensbedingungen auf der "Piste", wie die Siedlung auch genannt wird, sind vor allem in den Sommermonaten äußerst dramatisch: Die Wellblechhütten, in denen bis zu fünf Personen auf engem Raum zusammenleben, erreichen Temperaturen von bis zu 49 Grad. Bewohnende berichten davon, kaum atmen zu können. Es gibt weder Abwasser noch ein Abfallsystem, der Müll staut sich an. Wasser wird nur zweimal pro Woche geliefert. Außerdem herrscht durch die Hitze erhöhte Brandgefahr. Viele Menschen sind bereits an den Folgen von aufgestautem Stickstoff und Rauchentwicklung erkrankt, einige Bewohner*innen sind bei Bränden verstorben.
Die Lebensrealität der Frauen vor Ort (die nur 10% aller Bewohner*innen ausmachen) ist von mehrfacher Marginalisierung geprägt, wie Amnesty International berichtet: Nahezu alle Frauen sind von Menschenhandel und sexueller Ausbeutung betroffen. Viele leben ohne gültige Aufenthaltspapiere und verfügen nur über geringe Italienischkenntnisse. Sie leben weitaus isoliert im Camp. Aus wirtschaftlicher Not, Angst vor negativen Konsequenzen für ihre Familien im Herkunftsland sowie vor einer drohenden Abschiebung trauen sich nur wenige, sich an die Polizei oder Hilfsorganisationen zu wenden und verbleiben ohne Unterstützung in ausbeuterischen Verhältnissen.
Bis jetzt wurde laut Giovanni Mininni, Generalsekretär der Gewerkschaft Flai Cgil, kein Euro in Borgo Mezzanone investiert - weder in den Arbeitsschutz noch in menschenwürdige Lebensbedingungen oder Infrastruktur. Ob der vor wenigen Tagen erfolgte Besuch einer Delegation von Gewerkschafter*innen, italienischen und europäischen Parlamentarier*innen und Vertreter*innen der Europäischen Kommission zu Verbesserungen der Lebensbedingungen in der Siedlung führen wird, bleibt abzuwarten.
8. Juli 2025: CPR
Unzureichendes Urteil des Verfassungsgerichts: CPRs weiterhin in rechtlicher Grauzone
Italiens Abschiebezentren Centri di Permanenza per il Rimpatrio (CPRs) stehen nach einem aktuellen Urteil des italienischen Verfassungsgerichts erneut in der Kritik. Am 3. Juli erkannte das Gericht an, dass die Inhaftierung in CPRs eine Einschränkung der persönlichen Freiheit gemäß Artikel 13 der Verfassung darstellt und daher eines angemessenen rechtlichen Rahmens bedarf. Anstatt jedoch das derzeitige System für verfassungswidrig zu erklären, wies das Gericht die Beschwerde als unzulässig zurück und forderte das Parlament zum Handeln auf. Das Problem liegt darin, dass CPRs in einer rechtlichen Grauzone operieren – sie unterliegen internen Vorschriften, die je nach Zentrum unterschiedlich sind, ohne einheitliche nationale Standards. Menschenrechtsorganisationen wie Antigone warnen seit Jahren vor willkürlichen Einschränkungen, unzureichendem Rechtsschutz und systematischen Menschenrechtsverletzungen.
Auch medizinisches Fachpersonal in den CPRs schlägt Alarm: Inhaftierte leiden unter unbehandelten gesundheitlichen Problemen und psychischen Belastungen. Einige Insassen befinden sich im Hungerstreik – oft ohne angemessene Versorgung. Die Nationale Ärztekammer Fnomceo prangert an, dass „CPRs Leben gefährden“. Nach dem Urteil des Gerichts wurden sechs Migranten aus CPRs in Rom und Gjader freigelassen. Mindestens drei weitere Anträge werden nun dahingehend geprüft. Das System als Ganzes bleibt jedoch unverändert. Kritiker*innen betonen, dass das Gericht zwar den Weg für neue rechtliche Anfechtungen geebnet, aber nicht entschieden genug gehandelt habe. Solange das Parlament kein Gesetz erlässt, das rechtliche Grenzen, Aufsicht und Rechte der Inhaftierten definiert, werden Menschen weiterhin ohne Rechtfertigung in den CPRs eingesperrt.
4. Juli 2025: Arbeitsausbeutung
Migrant*innen als Ware: neues Dekret zur Arbeitskräftezuwanderung
Mit dem neuen decreto flussi, welches die Einreisequoten ausländischer Arbeitskräfte für 2026-2028 festlegt, sollen „die Arbeitskräfteressourcen sichergestellt werden, die für das nationale Wirtschaftssystem und die Produktion unverzichtbar sind“, so die italienische Regierung. In den nächsten drei Jahren sollen 500.000 Personen – 10 % mehr Menschen als bisher – in den italienischen Arbeitsmarkt einwandern. Während das Instrument auf dem Papier den Erwartungen der Unternehmer*innen entspricht, haben 2024 nur 12 % der Arbeiter*innen, die mit dem decreto flussi nach Italien gekommen sind, eine sichere Arbeitsstelle gefunden und eine Aufenthaltserlaubnis erhalten: Unendliche lange Wartezeiten, unzulängliche Bürokratie und organisierte Kriminalität sind nur einige der Gründe dafür. Tatsächlich sei das decreto flussi „eine herausragende Maschine zur Schaffung von Illegalität“, wie Filippo Miraglia, Teil der Kampagne Ero Straniero, erklärt. Die illegalisierten Migrant*innen sind die Leidtragenden: Sie leben „mit hoher Wahrscheinlichkeit in unserem Land in völliger Prekarität und ohne Dokumente, in Gefahr, ausgebeutet zu werden“.
Für die Rhetorik der italienischen Regierung sind das rekordhohe decreto flussi und die Abschottungspolitiken – albanischen Lager, Verfolgung von zivilen Seenotrettungsorganisationen und Unterstützung von Regimen, die Geflüchtete foltern – Teile desselben Vorhabens: Darüber zu entscheiden, wer nach Italien kommt. Tatsächlich ist der gemeinsame Nenner der widersprüchlich erscheinenden Regierungspolitiken, Migration sowohl als politisches Kapitel – zum Schüren von Rassismus und Unsicherheitsgefühle, was in Freiheitsbeschränkungen resultiert – als auch zur Schaffung von ausbeutbaren Arbeitskräften zu nutzen, bemerkt il manifesto. Die italienische Einwanderungspolitik zwingt Migrant*innen dazu jede Arbeitsbedingung zu akzeptieren und jede Misshandlung hinzunehmen, da eine Entlassung das Risiko der Abschiebung mit sich bringt.
1. Juli 2025: CPR
Hinter den Mauern der CPRs: Gewalt, Isolation und rechtliche Schutzlosigkeit
In den vergangenen Wochen haben zahlreiche Berichte und Zeugenaussagen die strukturellen Probleme in Italiens Abschiebezentren (CPRs) offengelegt. Am 28. Juni mobilisierten zivilgesellschaftliche Gruppen in Trapani, um gegen die Praxis der Verwaltungshaft zu protestieren und langanhaltende Isolation sowie strukturelle Gewalt zu kritisieren. Interviews mit Insassen des CPR Trapani-Milo, veröffentlicht von Fanpage, berichten von unmenschlichen Zuständen: Menschen werden wochenlang festgehalten, ohne zu wissen warum, ohne Kontakt zur Familie und ohne Möglichkeit, sich gegen ihre Inhaftierung zu wehren. Laut Ristretti Orizzonti bestehen zahlreiche Hürden, die es den Betroffenen unmöglich machen, wirksamen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen. Eine weitere Recherche von Diario Prevenzione deckt massive Verstöße gegen das Recht auf Gesundheit auf, insbesondere bei psychisch erkrankten Personen, denen medizinische Versorgung systematisch verwehrt wird. Gleichzeitig zeigen Videos, die von Avvenire und InfoMigrants veröffentlicht wurden, Gewalt im CPR von Gradisca d’Isonzo: Polizisten sind dabei zu sehen, wie sie einen Insassen schlagen. Die Behörden bestreiten Misshandlungen, das Material bestätigt jedoch erneut den Vorwurf systemischer Gewalt und Straflosigkeit innerhalb der CPRs. Das CPR-System, ursprünglich als logistische Maßnahme zur Durchführung von Abschiebungen legitimiert, fungiert heute als paralleles Haftsystem ohne Kontrolle und rechtliche Garantien. Menschen werden dort bis zu 18 Monate festgehalten, ohne Anklage, ohne Gerichtsverfahren, ohne Rechte.
25. Juni 2025: Italien-Albanien Deal
Medienberichte decken direkte Abschiebungen aus Albanischem CPR auf
Am 23.06.2025 berichteten italienische Medien von einem Vorgang, der sich bereits am 09. Mai abgespielt hat: In einer Nacht-und-Nebel Aktion hat die italienische Meloni-Regierung fünf ägyptische Staatsbürger, die im italienischen Abschiebezentrum (CPR) in Gjadër (Albanien) untergebracht waren, über den Flughafen von Tirana abgeschoben. Nach bisheriger Praxis wurden die in Albanien untergebrachten Personen zuvor stets nach Italien gebracht, bevor eine Abschiebung erfolgte. Der Abschiebeflug startete zunächst vom internationalen Flughafen Rom Fiumicino und landete kurze Zeit später in Albanien. Dort wurden die fünf Personen an Bord genommen und anschließend nach Ägypten abgeschoben. Dieser Vorgang wirft erhebliche Zweifel an seiner Vereinbarkeit mit geltenden Vorschriften auf: Laut Gianfranco Schiavone von der Associazione per gli studi giuridici sull’immigrazione habe der Transport der Personen in einer Art rechtsfreiem Raum stattgefunden. Der Transport der Personen außerhalb des Zentrums von Gjadër auf albanischem Gebiet hätte keiner gerichtlichen Kontrolle unterlegen und sei somit ohne jegliche rechtliche Grundlage erfolgt. Darüber hinaus widerspreche die unmittelbare Abschiebung der europäischen Rückführungsverordnung. Diese Praxis erschwert auch die öffentliche Kontrolle über die Einhaltung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen.
20. Juni 2025: Tod und Verschwinden
Tod und Verschwinden an den Grenzen: zwischen Erinnerung und Auslöschung
Am 13. Juni haben wir an einer Konferenz teilgenommen, die von dem Verein Memoria Mediterranea und CLEDU (Law Clinic der Universität) organisiert wurde: "Gemeinsam mit den Müttern, Schwestern, Vätern, Brüdern und Familienangehörigen von Menschen, die an den europäischen Grenzen - auf See, in Haftanstalten oder an den Grenzen - gestorben oder verschwunden sind, wird die Veranstaltung den Familien einen Raum bieten, um ihren Kampf für die Suche, die Identifizierung, die Wahrheit und die Gerechtigkeit für ihre verlorenen Angehörigen gegenüber den verantwortlichen und zuständigen Institutionen geltend zu machen."
Memoria Mediterranea ist der Verein, der die Struktur von Borderline Sicilia, unserem früheren Partner, übernommen hat. Sein Hauptaugenmerk liegt auf der Unterstützung von Angehörigen bei der Identifizierung und Rückführung menschlicher Überreste.
Auf der Konferenz kamen die Angehörigen der an den Grenzen Verstorbenen und Vermissten zu Wort (siehe Bilder unten). Am Nachmittag wurde aufgelistet, welche Maßnahmen von staatlicher Seite dringend notwendig sind, um Identifizierungen systematisch und standardisiert durchzuführen und ein verbindliches Verfahren innerhalb der Behörden bei Todesfällen und Verschwinden auf See zu etablieren.
Wir haben die Stimmen von MemMed auch in unserem Streiflicht-Magazin „Verlorene Leben, unerzählte Geschichten“ vorgestellt.
Titelfoto: Wolfgang Hasselmann, unsplash