25.01.2023

Sie holten Flüchtende an der Grenze ab, um zu überleben - sie wurden zu 23 und 11 Jahren verurteilt

UPDATE - Prozessbericht vom 27.1.23: Schmuggelverfahren: 19 Minuten Prozess für A.B. und H.S. in Komotini

Am 26. Januar 2023 findet die Berufungsverhandlung des 39-jährigen A.S. aus Afghanistan und des 23-jährigen Haroon Bhatti aus Pakistan vor dem Obersten Gericht in Komotini, Griechenland, statt. Anstatt in Europa Sicherheit zu finden, nachdem sie aus ihren Herkunftsländern geflohen waren, sind A.S. und H.B. seit mehreren Jahren wegen „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ inhaftiert.

Nachdem sie 2016 und 2018 als Geflüchtete nach Griechenland gekommen waren, waren H.B. und A.S. inklusive Familie nach Durchlaufen des Asylverfahrens ohne jegliche staatliche Unterstützung und ohne die Möglichkeit einer legalen Beschäftigung komplett auf sich alleine gestellt. Da sie über kein Geld verfügten, um ihre Grundbedürfnisse zu decken, waren sie ernsthaft vom Hungertod und von Obdachlosigkeit bedroht. Als A.S. angeboten wurde, für 1.000 € als Fahrer und H.B. für 300 € als Beifahrer Geflüchtete an der griechisch-türkischen Grenze abzuholen, sahen beide darin ihre einzige Chance zum Überleben. In der Nacht des 8. März 2019 fuhren A.S. und H.B. daraufhin mit dem Auto von Thessaloniki nach Kipoi in Evros. Dort sollten sie sieben Flüchtende abholen, die gerade die berüchtigte Überfahrt über den Evros-Fluss hinter sich gebracht hatten, um Europa zu erreichen. Der Evros-Fluss ist ein Symbol für das gewaltsame Grenzregime in Europa und war bereits Schauplatz gewaltsamer Pushbacks, unmenschlicher und entwürdigender Behandlung durch Grenzbeamt*innen und des vermeidbaren Todes von Menschen auf der Flucht (für eine ausführliche Analyse der Grenzregion im Evros siehe hier).

Um zu verhindern, dass diese sieben Personen in die Türkei zurückgepusht oder von den Grenzbehörden misshandelt werden, versuchten A.S. und H.B., die Flüchtenden weiter ins Landesinnere zu bringen, in der Hoffnung, dass sie dort ihr Recht auf einen Asylantrag geltend machen könnten.

Nach etwa einer Stunde Fahrt wurde der Wagen von der griechischen Polizei angehalten. Nach Angaben der Polizei hatte sie den Transfer in Kipoi überwacht und das Auto in Mestis Tools angehalten. A.S. und H.B. wurden verhaftet und anschließend wegen „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ angeklagt.

Laut griechischer Gesetzgebung ist jede Person, die ein Fahrzeug mit Schutzsuchenden über die griechischen Grenze fährt, ein Schmuggler. Wie CPT – Aegean Migrant Solidarity, borderline-europe und Deportation Monitoring Aegean dokumentiert haben, wird die Erhebung solcher Anklagen seit mehreren Jahren systematisch betrieben, unabhängig davon, wer und aus welchem Grund das Boot oder Auto gesteuert hat. Bei den meisten der dokumentierten Fälle handelt es sich um sogenannte „Bootsfahrer*innen“, die der Schleusung beschuldigt wurden, weil sie die Pinne zum Steuern des Bootes hielten, mit der Küstenwache kommunizierten, um Hilfe zu rufen, oder einfach nur Englisch sprachen. Die Verhaftungen, die auf diese oft unbegründeten Vorwürfe folgen, sind oftmals willkürlich, und die Prozesse verstoßen in der Regel gegen grundlegende Verfahrensstandards. Ohne ausreichende Beweise werden die Menschen in der Regel bei ihrer Ankunft verhaftet und monatelang in Untersuchungshaft gehalten.

H.B., der damals erst 20 Jahre alt war, kam direkt nach dem Verhör in Untersuchungshaft, während A.S. nach dem erstinstanzlichen Prozess im Januar 2020 verurteilt und inahftiert wurde. Obwohl sowohl A.S. als auch H.B. während des Prozesses ehrlich waren und ihre Beteiligung an dem Fall zugaben, waren sie nicht in der Lage, ihre Beweggründe dazurlegen, da ihnen kein Gehör geschenkt und nur ein*e Pflichtverteidiger*in kurz vor Beginn des Prozess zugewiesen wurde.

Der Wunsch nach Gerechtigkeit der beiden wurde weiter verzögert, als ihre Berufungsverhandlung im Dezember 2021 aus verwaltungstechnischen Gründen verschoben wurde. Ihr Strafverteidiger Spyridon Pantazis hofft nun, dass A.S. und H.B. in ihrem Berufungsprozess am Donnerstag, den 26. Januar 2023, zumindest ein wenig Gerechtigkeit widerfährt, in dem er versuchen wird, das systemisch ungerechte und diskriminierende System weiter aufzudecken, das zu ihrer Kriminalisierung geführt hat.

Für uns klar: Grenzübertritte und das Fahren eines Bootes oder eines Autos mit Menschen auf der Flucht sind keine Verbrechen! Das eigentliche Verbrechen ist Kriminalisierung der Einreise und der Beihilfe dazu und das von der EU und ihren Partnern errichtete Grenzregime entlang der verschiedenen Migrationsrouten!

Wir fordern:

  • Dass H.B. und A.S. freigesprochen werden;
  • Freiheit für alle, die inhaftiert sind, weil sie ein Boot oder Auto mit Schutzsuchenden an Bord gefahren haben, obwohl es keine Alternative gibt, um in die Europäische Union zu gelangen;
  • Ein Ende der Kriminalisierung von Migration und der Inhaftierung von Menschen auf der Flucht.
     

Weiterführende Infos:

 

Mittwoch, den 25.01.2023