09.02.2023

Schmuggelverfahren: 19 Minuten Prozess für A.B. und H.S. in Komotini

Prozessbericht von Julia Link, borderline-europe

Am 27.01.2023 fand das Berufungsverfahren von A.S. und H.B. in Komotini, Griechenland, statt. Nachdem die beiden Angeklagten bereits jeweils vier und drei Jahre in Haft wegen des Tatvorwurfs der Beihilfe zur unerlaubten Einreise saßen (Mehr lesen), konnte das Strafmaß deutlich gesenkt werden. Anstatt noch viele weitere Jahre im Gefängnis verbringen zu müssen, werden A.S. und H.B. in wenigen Wochen entlassen und können endlich ihre Familie und Freund:innen wiedersehen. Aufgrund bürokratischer Hindernisse bei der Passausstellung war es der Familie von A.S. nicht möglich von Deutschland nach Griechenland zu reisen, um ihn während der Verhandlung zu unterstützen.

Nachdem der 33-jährige A.S. aus Afghanistan und der 24-jährige H.B. aus Pakistan im ersten Verfahren zu jeweils 11 und 23 Jahren wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise in sieben Fällen verurteilt wurden, war nun die Berufungsverhandlung für den 26.01.2023 in Komotini, Nordgriechenland, angesetzt. Nachdem das Berufungsverfahren im Dezember 2021 vertagt worden war, da die Richter:innen und Sekretär:innen den Prozess nicht rechtzeitig vor Tagesende verhandeln konnten, entschieden sich die Richter:innen wiederum den Prozess zu vertagen. Statt eines einjährigen Aufschubs wurde die Verhandlung diesmal auf den folgenden Tag, den 27. Januar 2023, verlegt.

Am ursprünglich vorgesehenen Verhandlungstag waren 32 Fälle angesetzt, von denen zehn ebenfalls Fälle von Beihilfe zur unerlaubten Einreise behandelten. Der Fall von A.S. und H.B. sollte an neunter Stelle verhandelt werden. Aufgrund eines seit drei Monaten andauernden Streiks der Pflichtverteidiger:innen in Griechenland wurde jedoch für viele Fälle eine Prozessvertagung beantragt. Am 26.01.2023 wurden schließlich drei Fälle verhandelt, davon zwei Fälle mit dem Vorwurf der Beihilfe zur unerlaubten Einreise. Insbesondere einer der beiden „Transportfälle“ wurde mit einer hohen Freiheitsstrafe belegt, so dass die Stimmung im Gerichtssaal gegen Ende des Tages merklich angespannt war.

Das Verfahren gegen A.S. und H.B. wurde als zweites für den folgenden Tag angesetzt, im Anschluss an einen weiteren „Transportfall“. Nach einer Pause startete der Prozess von A.S. und H.B. um 13.13 Uhr. Die Richter:innenbank des Berufungsgerichts war mit einem fünfköpfigen Richter:innengremium, bestehend aus drei weiblichen und zwei männlichen Richter:innen, besetzt. Neben den Richter:innen saß gemäß der üblichen Anordnung rechts (von der erhöhten Richter:innenbank aus gesehen) der Staatsanwalt und links die Protokollführerin. Die beiden Angeklagten saßen unten auf Stühlen, mit dem Gesicht zum Gericht (Rücken zu den Zuhörer:innen), die Anwält:innen saßen rechts und links seitlich, auf selber Höhe mit den Angeklagten und den Zuhörer:innen. Der Zuhörer:innenraum, in dem zunächst auch der geladene Zeuge Platz nehmen musste, war durch eine Holzschranke von Gericht, Anwält:innen und Angeklagten abgetrennt. 

Um eine weitere Verzögerung des Prozesses zu vermeiden und da sich die Angeklagten ausreichend auf Griechisch verständigen können, fand der Prozess auf Wunsch der Angeklagten auf Griechisch und ohne Übersetzung in die Muttersprachen der Angeklagten statt. Als erstes überreichte der Anwalt der beiden Angeklagten, Spyridon Pantazis, den Richter:innen Unterlagen zur Gefängnisführung und bezüglich der familiären Situation der Angeklagten. Anschließend wurde der einzige von der Staatsanwaltschaft geladenen Zeuge vernommen. Dieser war als Polizist bei der Kontrolle des Autos, in welchem die beiden Angeklagten zusammen mit Geflüchteten fuhren, im Einsatz. Er sagte aus, dass die beiden Angeklagten sehr kooperativ gewesen seien, keinen Widerstand geleistet und ihre Handlungen direkt zugegeben hätten. Auf Nachfrage des Anwalts bestätigte der Polizeibeamte, dass keiner der Angeklagten die Fahrgäste zu irgendeinem Zeitpunkt in Gefahr gebracht habe.

Anschließend trug der Anwalt zu den Lebensumständen der beiden Angeklagten vor, welche unter griechischem Recht strafmildernd wirken können. So hatte A.S. bevor er verhaftet wurde ein Leben in Griechenland für sich, seine kranke Frau und seine beiden Kinder aufgebaut. Dies belegen auch die vorhandene Steuernummer und Krankenversicherung. Jedoch sei es ihm nicht möglich gewesen, einen Job zu finden, sodass er das Auto mit Geflüchteten aus finanzieller Not fuhr, um das Überleben seiner Familie zu sichern. Seine Handlung hätte er direkt bereut. Für H.B. betonte Spyridon, dass er zum Zeitpunkt der Festnahme erst 19 Jahre alt war. Ohne Job, Griechischkenntnisse und ohne ein Netzwerk, dass ihn hätte unterstützen können, habe er sich aus Not auf die Mitfahrt im Auto mit Geflüchteten eingelassen. 

Darauffolgend wurde A.S. vom vorsitzenden Richter zu seiner Herkunft, Ankunft in Griechenland, seinen Beweggründen für das Fahren des Autos mit Geflüchteten, sowie seinem Schulbesuch im Gefängnis befragt. Der Staatsanwalt befragte ihn außerdem, ob er beabsichtige nach seiner Freilassung nach Deutschland zu seiner Familie zu reisen. Nachfolgend wurde H.B. durch den vorsitzenden Richter und Staatsanwalt nach seiner Herkunft und seinem Wohnort in Thessaloniki gefragt, sowie, ob er schon zuvor in „Schmuggelaktivitäten“ involviert gewesen sei. 

Nach Beendigung der Befragung akzeptierte der Staatsanwalt die vom Anwalt der Angeklagten vorgeschlagenen mildernden Umstände und plädierte insbesondere für die Berücksichtigung drei mildernder Umstände für H.B. (gute Führung im Gefängnis, junges Alter, keine Vorstrafen) und zwei mildernder Umstände für A.S. (gute Führung im Gefängnis, keine Vorstrafen). Die Verhandlung endet nach 19 Minuten um 13.32 Uhr.

Die Richter:innen verkündeten nach einer weiteren Verhandlung und anschließenden Besprechung ihr Urteil um 14.45 Uhr. Sie akzeptierten alle vorgebrachten mildernden Umstände und senkten dadurch das Strafmaß erheblich. A.S. erhielt somit eine Strafe von acht Jahren und H.B. von 6 Jahren. Aufgrund der bereits verbüßten Haftzeit von drei bzw. vier Jahren und der im griechischen Strafrecht üblichen Umrechnung des Strafmaßes in tatsächliche Haftzeit werden beide Angeklagten in den nächsten Wochen entlassen werden.

Spyridon Pantazis, Anwalt der Angeklagten: "Wir sind mit dem Urteil des Gerichts zufrieden. Die Richter haben unsere Verteidigungslinie und unsere mildernden Argumente akzeptiert. Mit der Anerkennung der mildernden Umstände wurde die Tat von einem Verbrechen zu einem Vergehen reduziert, was zur Folge hat, dass meine Mandanten bald freigelassen werden. Im griechischen Strafrechtssystem müssen noch viele Dinge geändert werden, aber wir machen weiter Fortschritte."

Julia Link, borderline-europe: "Nachdem wir am Vortag einige extrem harte Urteile für ähnliche Fälle von den Richtern gesehen haben, sind wir sehr erleichtert über den Ausgang für A.S. und H.B. Auch wenn ihnen nun wenigstens etwas Gerechtigkeit widerfahren ist, hätten die Angeklagten gar nicht erst verurteilt werden dürfen. Dieser Fall ist einmal mehr symbolisch für die Bestrebungen Griechenlands, aber auch der EU, Migration zu kriminalisieren und wir fordern Gerechtigkeit für alle inhaftierten Menschen auf der Flucht!"
 


Hintergrundinformationen:


Weiterführende Infos:



Donnerstag, 09 February 2023
© Photo borderline-europe