24.07.2025

Vom Meer ins Gefängnis: Halbjahresbericht 2025

 

1. Die Zahlen

Im April veröffentlichte die italienische Staatspolizei ihre Jahreszahlen: Für das Jahr 2024 wurden „240 restriktive Maßnahmen gegen Menschenhändler*innen und Schleuser*innen im Rahmen der Bekämpfung der irregulären Migration und des Menschenhandels sowie gegen Schlepper*innen“ gemeldet. Im selben Bericht werden 160 Festnahmen auf Grundlage von Artikel 12 des Einwanderungsgesetzes (Testo Unico sull’Immigrazione) an der slowenischen Grenze sowie 72 festgenommene „Schlepper*innen“ bei der Anlandung angegeben. Wie immer führt der Gebrauch solcher Kategorien – teils juristisch, teils journalistisch – eher zur Verwirrung als zu Transparenz. So wird etwa die wichtige Unterscheidung zwischen Menschenhandel und Schmuggel verwischt – zwei Phänomene, die sowohl politisch als auch juristisch unterschiedliche Bedeutungen haben.

Die Zahl von 72 festgenommenen „Schlepper*innen“, wie sie von der Polizei kommuniziert wird, liegt deutlich unter derjenigen, die wir durch unsere eigene Beobachtung der Berichterstattung und der Gerichtsprozesse im Jahr 2024 ermittelt haben: Wir zählen 106 Festnahmen nach Anlandungen. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt: 2021 zählten wir 171 Festnahmen, während die Polizei von „225 Festnahmen von Schlepper*innen, Organisator*innen und Unterstützer*innen“ sprach. 2022 registrierten wir 264 Festnahmen, eine Zahl, die von der Polizei weitgehend bestätigt wurde. 2023 zählten wir 177, während die Polizei ca. 200 “Schlepper*innen angibt.

Trotz der Unstimmigkeiten zeigen die Daten der Polizei, dass die absolute Zahl der Festnahmen nach Anlandungen zurückgegangen ist, auch wenn der relative Anteil – gemessen an den angekommenen Personen – stabil bleibt. Aus den Zahlen ergibt sich jedoch auch, dass Artikel 12 des TUI (testo unico sull'immigrazione; italienisches Immigrationsgesetz) heute in anderen Kontexten als früher zur Anwendung kommt: So etwa im Fall der 160 Personen, die an der slowenischen Grenze verhaftet wurden, ein Fall, der sicher eine tiefere Untersuchung erfordert. Dies wird derzeit von der Organisation Migreurop durchgeführt, deren Ergebnisse in den kommenden Monaten erwartet werden.

Noch fragwürdiger erscheint es, dass außerhalb der Landungen (72 Personen) und der slowenischen Grenze (160 Personen) lediglich 8 Menschen wegen Beihilfe zur irregulären Migration angeklagt worden sein sollen (dies ergibt sich aus der Differenz zur Gesamtzahl von 240 Festnahmen). Angesichts zahlreicher weit von den Grenzgebieten entfernten Polizeiaktionen im vergangenen Jahr – etwa 9 Festnahmen in Siena, 10 in Mailand, 28 in Terni – erscheinen die Angaben der Polizei nicht nur unzuverlässig: Sie scheinen das tatsächliche Ausmaß der Kriminalisierung bewusst zu verschleiern.

 

2. Vom Gefängnis in Italien ins Gefängnis in Ägypten

In den letzten Monaten haben wir zahlreiche Fälle ägyptischer Staatsbürger*innen begleitet, die bei ihrer Entlassung aus der Haft direkt in Abschiebehaftzentren (CPR) überführt wurden. Seit Herbst 2024 mussten wir leider die Abschiebung dreier Männer aus den CPR Milo (TP) und Pian del Lago (CL) nach Ägypten verfolgen. Der Kontakt mit ihnen nach der Rückkehr offenbart ein alarmierendes Phänomen: Personen, die in Italien wegen “Schlepperei” inhaftiert waren, werden in Ägypten erneut – diesmal in Untersuchungshaft – wegen „Menschenhandels“ festgenommen. Zwei von ihnen –abgeschoben innerhalb weniger Tage – wurden in Ägypten im selben Verfahren angeklagt, obwohl sie zu unterschiedlichen Zeiten und unter völlig verschiedenen Umständen nach Italien gekommen waren.

Dank des operativen Supports der Organisation Refugees Platform In Egypt, die die rechtliche Verteidigung der Betroffenen übernommen hat, wurden die beiden Ende Mai freigelassen – gemeinsam mit einem weiteren Mitangeklagten, zu dem wir keinen Kontakt haben. Auch die dritte Person teilte uns ihre Freilassung mit. Wir befürchten jedoch, dass es sich um ein strukturelles Phänomen handelt: Mehrere italienische Anwält*innen berichten, dass auch andere Mandant*innen nach ihrer Rückführung erneut in Ägypten inhaftiert wurden.

In der Tat zeigt eine Recherche des ägyptischen Portals Mada Masr, dass das Phänomen der sogenannten „Rotation“ – also wiederholte Festnahmen derselben Personen – sich von einer Praxis gegen politische Aktivist*innen zu einem Mittel der Bekämpfung vermeintlicher Schleuser*innen entwickelt hat. Diese Praxis ermögliche es Polizeibeamten, Bonuszahlungen zu kassieren – und gleichzeitig die offiziellen Statistiken zur Migrationsbekämpfung zu beeinflussen. Die Lage ist derart besorgniserregend, dass sogar der ägyptische Generalstaatsanwalt eine Untersuchung eingeleitet hat. Es stellt sich also die Frage, ob sich diese Dynamik mittlerweile auch auf transnationaler Ebene vollzieht, mit dem Ziel, durch Re-Inhaftierungen nach Abschiebungen auf die offiziellen Zahlen Einfluss zu nehmen. Besonders seit dem Abkommen über 7,4 Milliarden Euro, das letztes Jahr mit der EU abgeschlossen wurde, erscheint dies plausibel.

Aktuell begleiten wir zwei Fälle ägyptischer Männer, die im CPR von Milo und Bari inhaftiert sind. Beide sind wegen Artikel 12 des TUI verurteilt und damit einem hohen Risiko einer erneuten Inhaftierung nach Abschiebung ausgesetzt. Darunter befindet sich Mahammad Al Jezar Ezet, der 2018 mit dem Schiff Diciotti ankam, das unter dem damaligen Innenminister Salvini drei Wochen lang keine Erlaubnis zum Anlegen erhielt. Mahammad verbüßte eine siebenjährige Haftstrafe nach Art. 12 TUI und befindet sich nun als Asylsuchender in Verwaltungshaft – weil er angeblich eine „Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ darstellt – obwohl ihm in Ägypten zum dritten Mal Kriminalisierung und Inhaftierung droht.

 

3. Das Unglück vom 15.08.2015 (Ferragosto-Unglück)

Fast zehn Jahre sind vergangen, seit acht junge Männer wegen des Ferragosto-Unglücks 2015 festgenommen und zu massiven Strafen von 20 bzw. 30 Jahren verurteilt wurden. Ihr Kampf um Gerechtigkeit und Freiheit geht trotz neuer empörender Rückschläge weiter. Nachdem das Kassationsgericht – das Oberste Gericht Italiens – im Oktober 2024 die Entscheidung des Berufungsgerichts von Messina bestätigte, die Revision im Fall Tarek Jomaa Laamami nicht zuzulassen, folgte das gleiche Urteil im Fall von Mohammed Assayd: Als Mitangeklagter Laamamis wurde er im Mai 2025 im Schnellverfahren zu 20 Jahren Haft verurteilt. Die zahlreichen Verfahrensfehler und neuen Zeug*innen-Aussagen der Verteidigung wurden von der Justiz nicht als ausreichend erachtet. Und am 12. Juni 2025 erklärte das Kassationsgericht auch den Revisionsantrag von Alaa Faraj für unzulässig – trotz einer breiten Kampagne für seine Freilassung, in deren Rahmen bald ein Buch bei Sellerio erscheint. Es scheint, als will sich das italienische Justizsystem nicht mit einem offensichtlich fragwürdigen Prozess auseinandersetzen, für den acht Männern mit einem Leben im Gefängnis bezahlen.

Drei von ihnen waren Profifußballer in Libyen. Trotz dieser erneuten Ungerechtigkeit kämpfen die Verurteilten weiter für ihre Freiheit. In der letzten Woche konnten einige ihrer Familienangehörigen aus Libyen mit einem Visum nach Italien reisen,  um ihre Angehörigen nach zehn Jahren endlich wieder in den Arm nehmen zu können. Die Schönheit dieses Moments kann jedoch die Wut über die erlittene Ungerechtigkeit nicht auslöschen. Wir bekräftigen unsere Solidarität mit ihrem Kampf und unsere Empörung über die jüngsten Urteile. Freiheit und Gerechtigkeit für Tarek, Alaa und Mohamed! Freiheit für alle!

 

4. Artikel 12-bis: Erste Verurteilungen

Inzwischen sind die ersten Urteile wegen des Straftatbestands nach Art. 12-bis des TUI ergangen – eingeführt durch das sogenannte „Cutro-Dekret“ vom März 2023, das bei „Tod oder Körperverletzung infolge von Straftaten im Zusammenhang mit irregulärer Migration“ eine Freiheitsstrafe von bis zu 30 Jahren und mindestens 15 Jahren vorsieht. Das bedeutet: Selbst im Schnellverfahren drohen hier rasch zehn Jahre Haft.

Im Dezember 2024 wurde ein sudanesischer Staatsbürger vom Gericht in Agrigent zu 12 Jahren Haft verurteilt. Ursprünglich war er nach dem “vereinfachten” Artikel-12-Verfahren angeklagt worden – erst in der letzten Anhörung wurde die Anklage auf Art. 12-bis ausgeweitet. Das Urteil wurde im Berufungsverfahren im Juni weitgehend bestätigt – mit einer minimalen Reduktion auf 11 Jahre und 8 Monate. Er war Ende 2023 in Lampedusa angekommen und gemeinsam mit drei weiteren Personen nigerianischer, gambischer und ghanaischer Herkunft verhaftet worden. Diese drei, die ebenfalls von der Organisation Maldusa begleitet werden, wählten das ordentliche Verfahren, das nun begonnen hat. Die nächste Anhörung ist für den 18. September vor dem Schwurgericht von Agrigent angesetzt.

Unterdessen läuft auch das Verfahren gegen ‚Ahmed‘, den minderjährigen Ägypter, über den wir bereits berichtet haben. Er war im Juni des vergangenen Jahres mit dem zivilen Seenotrettungsschiff Nadir an Land gekommen. Sein Mitangeklagter (volljährig) wurde vom Gericht in Agrigent im abgekürzten Verfahren zu 17 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt. In denselben Tagen beantragte die Staatsanwaltschaft vor dem Schwurgericht von Agrigent 16 Jahre Haft für einen weiteren ägyptischen Staatsbürger, der vor einem Jahr in Lampedusa angekommen war. Das Urteil wird im September erwartet.

Diese ersten Urteile markieren einen Rückschlag im Kampf um die Rechte kriminalisierter Personen. In unseren früheren Berichten hatten wir dokumentiert, wie die Anklage nach Art. 12-bis den ersten Prozessen oft nicht standhielt: So wurde etwa in dem ersten überhaupt ergangenen Urteil gegen zwei junge Männer aus Sierra Leone die Anklage vom Gericht in Reggio Calabria auf das vereinfachte Verfahren des Art. 12 abgeschwächt – und dieses Urteil wurde im Mai in der Berufung bestätigt. Wir freuen uns, dass wenige Wochen nach dieser Bestätigung die Untersuchungshaft für ‚M‘ in eine Meldepflicht umgewandelt wurde – er ist nun endlich frei. Im Schwurgericht von Locri, wo sieben Personen wegen Art. 12-bis angeklagt waren, wurden fünf rechtskräftig freigesprochen. Die beiden Verurteilten wegen des vereinfachten Art.-12-Verfahren haben gegen das Urteil Berufung eingelegt.

 

5. Cutro: Die parallelen Prozesse

Wir haben in den vergangenen Jahren regelmäßig über die Kriminalisierung der fünf Personen berichtet, die beschuldigt werden, die Kapitäne des im Februar 2023 vor Cutro gesunkenen Bootes gewesen zu sein. Die Berufungsverfahren gegen die Urteile gegen Sami Fuat, Hasab Hussain und Khalid Arslan stehen noch aus. Die Berufungskammer bestätigte im März die 20-jährige Haftstrafe für Abdessalem Mohammed, während das Kassationsgericht im Juni das Urteil gegen Gun Ufuk endgültig bestätigte.

Angesichts dieser bisher verhängten immensen Strafen ist es besonders wichtig, auch auf ein paralleles Verfahren hinzuweisen, das denselben Vorfall betrifft: Am 3. März 2025 begann vor dem Voruntersuchungsrichter (GUP) in Crotone ein Verfahren zur Klärung der institutionellen Verantwortung für das Schiffsunglück. Angeklagt sind vier Mitglieder der Finanzpolizei sowie zwei Mitglieder der Küstenwache wegen fahrlässigen Schiffsunglücks und mehrfacher fahrlässiger Tötung infolge schwerer Versäumnisse bei den Rettungsmaßnahmen. In einem Verfahren, das für die Aufarbeitung der Seenotrettung von grundlegender Bedeutung ist, befassten sich die bisherigen Anhörungen überwiegend mit der Zulassung der Nebenkläger*innen.

Zu den Nebenkläger*innen, die zugelassen werden wollten, zählen Hinterbliebene, Überlebende des Unglücks sowie als juristische Personen nahezu alle NGOs, die im Bereich Seenotrettung tätig sind, und zahlreiche Organisationen, die sich seit Jahren für Menschenrechte und die Rechte von Migrant*innen einsetzen (darunter ARCI, ASGI, Progetto Diritti onlus und Mem.Med). Interessanterweise hat die Region Kalabrien versucht, als Nebenklägerin zugelassen zu werden. Der Antrag, der am 12. Mai gestellt wurde, wurde aber bereits in der folgenden Anhörung nach einem Eingreifen von Minister Salvini unter Verweis auf einen angeblichen Delegationsfehler zurückgezogen.

Nach der Anhörung vom 28. Mai entschied der GUP, zahlreiche Nebenkläger*innen auszuschließen – darunter alle genannten Verbände, mit Ausnahme der NGOs, die konkret in der Seenotrettung tätig sind. Als einzige Einzelpersonen ausgeschlossen wurden Hasab Hussain und Khalid Arslan, die bereits in erster Instanz nach Art. 12 verurteilt worden waren – obwohl auch sie Passagiere auf dem Schiff waren. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft wurde ihre Zulassung mit der Begründung verweigert, dass sie für dieselbe Tat oder ein damit zusammenhängendes Delikt verurteilt wurden und somit als Mittäter gelten würden.

Wir schließen uns der Stimme ihres Rechtsanwalts an, der daran erinnert, dass beide vom Vorwurf des fahrlässigen Schiffsunglücks freigesprochen wurden und dass sie als Passagiere wie alle anderen gerettet werden mussten. Glücklicherweise unterscheidet weder das nationale noch das internationale Recht zwischen „unschuldigen“ und „schuldigen“ Personen, wenn es um Seenotrettung geht: In Seenot zu geraten, verpflichtet zur Rettung. Das ist kein Thema für juristische oder politische Debatten. Wir betonen zudem: Eine Verurteilung dieser Beamten würde zwar einen Fortschritt darstellen, greift aber zu kurz – denn sie verschleiert die Mitverantwortung der italienischen Regierung und ihre tödliche Migrationspolitik. Selbst wenn die Tragödie an Italiens Küste geschieht, werden einzelne „Sündenböcke“ verurteilt und das System selbst bleibt unangetastet.

 

6. Geflüchtet aus dem Iran, verfolgt in Italien

Am 16. Juni fand die letzte Verhandlung im Falle Marjan Jamali und Amir Babai statt – zwei iranische Staatsbürger*innen, die im Oktober 2023 aus dem unterdrückerischen Regime Irans nach Italien geflohen waren. Glücklicherweise wurde Marjan – der bereits vor einem Jahr Hausarrest gewährt worden war – vom Gericht freigesprochen. Eine große Erleichterung für sie, ihr kleines Kind und die solidarische Gemeinschaft, die sich für sie eingesetzt hatte. Amir Babai hingegen wurde zu sechs Jahren und einem Monat Haft verurteilt. Beide beteuerten stets ihre Unschuld und Marjans Aussage im Gericht hätte Amir eigentlich entlasten sollen. Nur wenige Tage nach seiner Verurteilung wurde bekannt, dass Amir einen Suizidversuch unternommen hat. Zum Glück blieb dieser erfolglos, doch er zeigt die Verzweiflung angesichts dieses grausamen und ungerechten Urteils deutlich.

Der Freispruch für Marjan wurde von einem großen Netzwerk von Aktivist*innen und Organisationen auf lokaler wie nationaler Ebene erkämpft. Gemeinsam mit ihnen werden wir nun weiter für Amirs Freiheit kämpfen. Diese Verurteilung wirkt umso zynischer, da Italien aktuell das iranische Regime als Feind des Volkes darstellt, um militärische Interessen zu rechtfertigen – gleichzeitig aber Amir wegen seiner Flucht inhaftiert. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang das Netzwerk Oltre i Confini: Scafiste Tutte, mit dem wir in den vergangenen Monaten zusammengearbeitet haben. Es besteht aus kalabrischen Aktivist*innen, die ursprünglich die Free Maysoon Majidi Kampagne initiierten und sich nun erneut organisiert haben, um auf lokaler Ebene Aktionen und politische Debatten gegen die systematische Kriminalisierung von Migrant*innen in Kalabrien voranzutreiben.

 

‚Dal mare al carcere‘ – Vom Meer ins Gefängnis

‚Dal mare al carcere‘ ist ein  Projekt von Arci Porco Rosso und borderline-europe, das seit 2021 die Kriminalisierung sogenannter “scafisti*e” (die Bootfahrer*innen) in Italien dokumentiert und betroffenen Personen sozialrechtliche Unterstützung bietet. Wir danken Guerilla, FGHR, Sea-Watch, Safe Passage und United4Rescue, die uns in dieser Sache und unsere politische Arbeit unterstützen.

 

Aus dem Italienischen übersetzt von Lea Wilhelmi.