Ohne Worte – ein Brief aus Lesbos

Mir fehlen die Worte für eine passende Überschrift „Die Lage spitzt sich zu?“ – „Der Winter kommt und Rekordzahlen im Camp Moria“ – alles irgendwie zu lasch und eigentlich auch nichts Neues. Der Winter kommt jedes Jahr und jeden Monat kommen auch neue Geflüchtete, das Nicht-Helfen-Wollen der EU und der Behörden Griechenlands, auch das nichts Neues.

Mein Name ist Alice Kleinschmidt. Ich bin 35 Jahre alt. Seit ziemlich genau vier Jahren wohne ich in einem kleinen Bergdorf, 7 km vom Meer entfernt an der Nordostküste von Lesbos. Die Türkei kann ich von meinem Balkon aus sehen, nachts die Lichter, tagsüber die Hügel und Küste nördlich von Ayvalik. Es sind ca. 6 km Wasserstrecke an der engsten Stelle hier von der Türkei in die EU, also nach Lesbos. In den Sommermonaten von 2015 sah ich zum ersten Mal die vielen hunderte, wenn nicht tausende Geflüchtete durch das Dorf ziehen. Oft hatten sie nur einen kleinen Rucksack, ein paar türkische Liras, ein paar Dollars oder sogar nur Geld aus ihrer Heimat dabei. Je nachdem natürlich auch mal große Koffer, oder gar nichts. Noch nicht einmal Schuhe. Oft verloren beim Aussteigen aus den Booten. Natürlich war der Anblick für die Dorfbewohner*innen auch hier nichts Neues. Einer der Farmer erzählte mir von seinem ersten Boot, es waren 13 kurdische Geflüchtete aus der Türkei, 1986. Seitdem ein bis zwei Mal die Woche, sagte er, kamen Leute hier irgendwo an.

Alle Geflüchteten, die auf Lesbos ankommen, kommen mit Booten. Die meisten in diesen schwarzen Schlauchbooten, gebaut für 13 Personen, beladen mit 30-70 Personen. Es gab aber auch schon einige richtig große Holzboote, oder alte Fähren, auf denen dann 300 Menschen Platz fanden um sich in Sicherheit in der EU zu wägen.


Die aufblasbaren Schwimmwesten für die kleinen Kinder sind eher ein Badespaßprodukt als eine richtige Schwimmweste, doch auch die Erwachsenenschwimmwesten sind „Fake“- Produkte, hergestellt in Izmir und Umgebung in der Türkei, verkauft für rund 50 Euro. Sie sehen aus wie Schwimmwesten, sind aber bestenfalls für wenige Minuten im Wasser geeignet und saugen sich dann voll. Der Schaumstoff im Inneren ist nicht für das über Wasser halten geeignet. Hier ein Artikel und ein Video dazu.

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Über die Situation auf Lesbos zu schreiben fällt mir relativ schwer. Es verlassen mich die Worte, seit drei  Jahren, mit dem In-Kraft-Treten des EU-Türkei Deals, die gleiche Misere, auf Kosten der Menschenrechte und Menschen hier ein Abschreckungslager, den sogenannten “Hot Spot“ zu schaffen, eine Gefängnisinsel, nach dem Motto „aus den Augen aus dem Sinn“.  Dennoch hier ein Versuch die Lage irgendwie zusammenzufassen.


Nur die Zahlen, was sagen die schon über die Schicksale der Menschen? Im gesamten Jahr 2019 bis Ende Oktober kamen 43.683 Menschen über den Seeweg nach Griechenland an, davon 19.000 auf Lesbos, und 11.655 über den Landweg an der Grenze zur Türkei am Evros.

17.000 Geflüchtete allein in Lesbos – mehr als 8.000 Neuankömmlinge in den letzten zwei Monaten

Im September allein erreichten 4.856 Menschen die Insel Lesbos mit dem Boot, das sind durchschnittlich 162 Menschen am Tag. Im Oktober waren es 3.375 Menschen. Sie kommen hauptsächlich aus Afghanistan, an zweiter Stelle (mit aufsteigendem Trend) aus Syrien, dann Irak, D.R. Kongo, Iran usw.

Auf der Insel Lesbos befinden sich zurzeit mehr als 17.000 geflüchtete Menschen, die meisten davon ca. 15.000 im Moria „Hot Spot“ darunter 1.000 unbegleitete Minderjährige.

Entgegen der Behauptungen, die Türkei würde nicht mehr genug kontrollieren, und deswegen die steigenden Zahlen, stehen Berichte, die von einer wesentlich höheren Zahl von Booten, die in der Türkei ablegen, Kenntnis haben. Im September allein starteten 900 Boote aus der Türkei in Richtung griechische Inseln und nur 309 kamen dort an. Mehr als zwei Drittel der Boote werde also abgefangen von der türkischen Küstenwache.

Ja, es gibt auch Transfers aufs griechische Festland, die aber zahlenmäßig hinter den neuen Ankommenden bleiben. Im September und Oktober waren es insgesamt rund 5.000 Menschen, die von Lesbos auf das Festland gebracht worden. Ob sie dort besser untergebracht werden ist sehr fraglich.[1]

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Was tun?

Ich arbeite nun schon seit vier Jahren in der Flüchtlingshilfe hier. Mittlerweile bin ich verantwortlich für eigenständige Projekte. Mit unserem Verein „borderline lesvos“ versuchen wir die Geflüchteten direkt nach der Ankunft im Norden der Insel zu unterstützen, aber auch später, insbesondere um sich bei der Integration und mit der Bürokratie zurechtzufinden, eventuell einen Arbeitsplatz oder eine Wohnung zu finden, versuchen wir mit unserem Welcome Office in Mytilini behilflich zu sein. Außerdem wollen wir irgendwie einen Bildungsersatz für ein paar der momentan mindestens 4.000 Kinder im schulpflichtigen Alter schaffen, von denen 3.700 keinen Zugang zum öffentlichen Schulsystem haben, ein Anrecht ja, aber Kapazitäten nein. Es fühlt sich so an, als würde man einen Tropfen auf den heißen Stein enorm aufbauschen, um noch von wirklicher Hilfe für die Geflüchteten reden zu können. So viel wir auch machen, die Ursache und die Struktur des Systems bleiben und sind Grund für eine enorme Traumatisierung der hier lebenden Geflüchteten. Das Warten, die undurchsichtigen unfairen Asylverfahren, die Organisation des Camps mit Zäunen, Gewalt und unzureichender Grundversorgung, wie Unterkunft, Essen, fließend Wasser usw. Tausende Kinder ohne jede Perspektive von Sicherheit geschweige denn Bildung. „Who cares“ denkt man sich immer wieder, nach Jahren dieses Zustandes, momentan sogar mit Rekordzahlen an Geflüchteten. Die 100 Schüler*innen, die bei uns wöchentlich ein- und ausgehen und die 20 Menschen, die täglich in unsere Sozialberatung kommen, klar besser als nichts, aber bei mehr als 76 registrierten Vereinen und Initiativen der Flüchtlingshilfe hier auf der Insel, auch merkwürdig, dass wir alle nicht mehr zur Verbesserung der Lage beitragen. Oder sind wir nicht dafür verantwortlich, ist es der Staat? Die EU? Ja, wer nun eigentlich? Ein Desaster!  

Am nahegelegenen Strand meines Wohnortes finden wir oft zerrissene Dokumente. Aus Angst in das „sichere Drittland“ Türkei zurück geschoben zu werden, bleibt nur, Unterlagen, die dort eine Registrierung als Flüchtling bedeuten, zu zerstören. Einige hinterlassen auch Familienfotos, oder Zeugnisse der Schule, verloren? Wir wissen es nicht. Die Schwimmwesten stapeln sich an den Stränden von Lesbos, werden aber mittlerweile schnell geräumt, es gibt diverse Upcycling-Werkstätten, die aus den Schwimmwesten Taschen  oder andere Produkte machen.  

Viele der Geflüchteten wissen vorher gar nicht, dass sie ein solches Schlauchboot besteigen werden. Routen und Geldtransfers werden oft in Istanbul festgelegt, dann müssen sie sich irgendwo im Wald verstecken, auf neue Anweisungen warten. Da die Überfahrt illegal ist, begibt man sich auf kriminelles Terrain, ausgeliefert an Menschenhändler*innen. Warum trotzdem Geflüchtete noch als Täter*innen und nicht als Opfer dargestellt werden ist mir schleierhaft.


Emergency Thermo Decken
Sind auf Vorrat bei den Teams, die sich an der “Ersten Hilfe“ an der Küste hier beteiligen, zu erhalten . Sie sollen die Haut vor Unterkühlung schützen und es gibt viele Bilder mit diesen Decken in den Medien, sie sind quasi zum Symbol geworden. Auf dem letzten Dorffest wurden sie als Tischdecken verwendet, ein Bekannter sagte mir, man habe irgendwo ganze Kisten voll davon gefunden, und wisse nicht, was damit zu tun ist.

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7.000 Kinder auf der Flucht befinden sich in Lesbos  


Besonders mulmig wird mir immer bei den Kindern, 42% der ankommenden Geflüchteten sind Kinder. 7 von 10 der Kinder sind unter 12. Fast keine*r von ihnen kann schwimmen. Manche sind noch Säuglinge. Manche tragen gar keine Schwimmwesten, andere nur „Fake“- Westen.  17% der Kinder kommen unbegleitet. Entgegen der öffentlichen Darstellung von “illegalen Migrant*innen” oder „Islamist*innen“, die da kommen. Nein, es sind so viele Kinder, die Schutz suchen, die von ihren Eltern in der Hoffnung auf ein besseres und vor allem sicheres Leben hierher geschickt oder gebracht worden sind.

Am 15.09. habe ich selbst mein zweites Kind hier im Krankenhaus von Mytilini zur Welt gebracht. Neben mir im Kreissaal brachten zur gleichen Zeit vier geflüchtete Frauen ihre Kinder zur Welt. Kein*e Dolmetscher*in in Sicht. Ich hörte die Ärzt*innen mit Anweisungen schreien und die Frauen vor Schmerz. Ich schätze mindestens 30 – 50 Geburten finden wöchentlich im einzigen Krankenhaus der Insel in Mytilini statt. Der Chefarzt sprach im Abendfernsehen von einer totalen Überforderung seines Personals. Mehr als die Hälfte der Geburten/gebärenden Frauen kommen direkt aus Moria.. Oft ohne jede Voruntersuchung und manchmal direkt vom Boot ins Krankenhaus mit dem Krankenwagen, von denen es nur zwei auf der Insel gibt. Chaos auf allen Seiten. Die Mutter-Kind-Station: so verbindend es auch ist, dass wir alle gemeinsam dort ein Kind zur Welt brachten, so deprimierend die Vorstellung in welche unterschiedliche Welten wir nach drei Tagen wieder mit unseren Neugeborenen zurück mussten, die einen in ein Zelt ohne warmes geschweige denn fließendes Wasser, ohne medizinische Nachsorge irgendwo am Olivenhain in Moria, kalt und chaotisch und ich in meine festen vier Wände, warm und kuschelig. Willkommen in der Welt, ihr kleinen Babys, so unterschiedlich fängt Euer Leben an.

Todesfälle häufen sich wieder

Dann sind da noch die Toten. Die Meldungen über Tote, also Ertrunkene, mal kurz vor Aivalik, mal kurz vor Chios, mal im Norden von Lesbos. Immer Babys, Frauen und Kinder dabei. Die offizielle Zahl des UNHCR spricht von 694 Toten, die bei der Überfahrt in der Ägäis innerhalb der Jahre 2016 bis 2018 ertrunken sind  und 2015 waren es 799. 2014 waren es 405. Jedes Jahr also aufs Neue Tragödien, die zu vermeiden waren, gäbe es „safe passage“, eine sichere Überfahrt. Es ist doch so nah. Ich kann das Land sehen, dennoch keine Chance, die Grenze ist vermeintlich dicht, für Menschen mit dem „falschen“ Pass versteht sich, für Waren boomt das Geschäft wie überall. Ich als Deutsche kann mir hier ein Fährticket kaufen, die einfache Fahrt kostet 8 Euro und mit dem „richtigen“ Pass bin ich in 2 Stunden auf der anderen Seite. Sicher und erfrischt, rieche ich danach nicht nach Angstschweiß und Panik, wenn ich ankomme.

Die letzten mir bekannten Todesfälle bei der Überfahrt aus der Türkei auf die griechischen Inseln: Am 03. Oktober ertrinkt ein drei Jahre alter Junge vor der Insel Kos, nachdem das Schlauchboot in dem 33 Menschen saßen, angeblich versehentlich von der griechischen Küstenwache gerammt wurde. Am 01. November ertrinken bei Samos 11 Menschen, 5 Frauen, 2 Kinder und 4 Kleinkinder nachdem das Boot nur wenige Meter vor der Küste auf einen Felsen lief. Am selben Tag wird aus der Türkei gemeldet, dass man auf der Suche nach vermissten Bootsflüchtlingen ist. Zwei Tote wurden geborgen, weitere Menschen werden noch vermisst. [2]

Aber auch Nachrichten über Todesfälle im Camp und um das Camp in Moria erreichen uns monatlich. Am 24. August wurde ein 15-jähriger Junge in der sogenannten “safe zone“ des Lagers Moria getötet und zwei andere schwer verletzt, in diesem Teil des Lagers sind hunderte unbegleitete Minderjährige in Lesbos untergebracht. Am 19. September wurde ein fünf Jahre alter Junge auf dem Zufahrtsweg zum Lager von einem Lastwagen überfahren. Er hatte auf der Straße gespielt und sich in einem Karton versteckt. Am 29. September brach ein Feuer im Lager aus, welches den Tod von mindestens einer Frau (offizielle Version) verursachte, Berichte von den Geflüchteten selbst reden von fünf Toten, darunter einem Neugeborenen.

Es ist schwer alle Fälle akkurat zu erfassen, aber Fakt ist, dass jede Woche, jeden Monat Menschen durch das europäische Grenzregime ums Leben kommen. Hier der Versuch alle Todesfälle seit 1993 bis 2019 zu erfassen, die durch Grenzpolitik in Europa durchs Leben kamen: 36.570 Todesfälle!!! [3]

Was die Geflüchteten nicht wissen

Was die Geflüchteten meist auch nicht wissen, wenn sie hier ankommen, ist, dass sie über Monate, wenn nicht sogar Jahre auf der Insel verbringen müssen. Es gibt keine legale Möglichkeit die Insel zu verlassen, bevor nicht das Asylverfahren abgeschlossen ist, oder man als besonders schutzbedürftig anerkannt wurde.
In den Jahren vor 2016 war es hauptsächlich die einheimische Bevölkerung, die ausgeholfen hat, wenn Geflüchtete ankamen. Dann, nach dem Sommer 2015, kamen erst die NGOs und dann seit dem EU-Türkei- Deal haben Polizei und Küstenwache quasi das Sagen und sehr selten findet man noch „unbeaufsichtigte“ Geflüchtete direkt nach der Ankunft. Es ist alles strengstens überwacht. Ich bin noch in dieser Zwischenphase 2015 nach Lesbos gekommen. Es war sehr viel los, Chaos, aber auch viel Freude und Glück in den Augen der ankommenden Menschen war zu sehen. Sie hatten es geschafft, waren im „gelobten Land“. Heute erwartet sie hingegen die „Hölle auf Erden“, so sagen manche über das Moria Camp.

Politisch geht es in Richtung mehr Repressionen

Im Mai 2019 wurden durch das schlechte Abschneiden der Regierungspartei Syriza unter Alexis Tsipras bei den Europa- und Lokalwahlen Neuwahlen für das nationale Parlament ausgerufen. Lokal in Lesbos, wie auch auf nationaler Ebene wurden gemäßigte Parteien abgelöst durch eine mitte-rechts Regierung der Partei Nea Dimokratia. Die neue griechische Regierung kündigte sofort eine Reihe von neuen Maßnahmen an und brachte eine neue Asylgesetzgebung in die Wege, die erhebliche Einschränkungen des Asylrechts zur Folge hat. Anstatt Geflüchtete zu schützen, geht es nun darum sie ihrem Recht zu berauben z.B. nach einer negativen Entscheidung in Berufung gehen zu können. Die Regierung hat auch angekündigt die Abschiebungen in die Türkei zu beschleunigen und behauptet, dass sie bis zum Ende des Jahres 2020 bis zu 10.000 Menschen in die Türkei zurückbringen wird. Diesen Maßnahmen fehlt die Rechtsgrundlage, und dass die Türkei kein sicheres Drittland ist, da von dort aus Abschiebungen in die Herkunftsländer ohne ein Asylverfahren durchgeführt werden, ist von Menschenrechtsorganisationen vielfach beschrieben worden. Traurigerweise ist aber zu vermuten, wo ein politischer Wille ist, da ist auch ein Weg.

Direkt nach der Machtübernahe von Ministerpräsident Kyriakis Mitsotakis am 01.09.2019 verkündete er ebenfalls die Aussetzung der Ausgabe von Sozialversicherungs- und Steuernummer für Asylbewerber*innen. Das hat zur Folge, dass diese weder arbeiten noch vom Arzt kostenlos behandelt werden, noch eine Wohnung anmieten können und vieles mehr. Das bildet einen enormen Rückschritt zu Repressionen gegen Geflüchtete. Auch verwendet der Ministerpräsident und sein Kabinett jetzt vermehrt den Begriff Migrant*innen und nicht mehr der Geflüchteten, um, wie er sagt, darauf aufmerksam zu machen, dass die Mehrzahl der Menschen, die Griechenland erreichten „illegale Migrant*innen“ seien und keine Schutzsuchenden. Dies hat eine enorme Wirkung auf die Akzeptanz der geflüchteten Menschen in der Lokalbevölkerung. Für alle sogenannten «illegalen Migrant*innen» solle es außerdem geschlossene Camps geben.

Auch gibt es bereits vermehrt Berichte über die schlechte Qualität der EASO (European Asylum Support Office, welches die Asylverfahren in Lesbos durchführt), die somit eine akkurate Durchführung von Asylverfahren eigentlich nicht gewährleisten kann. Mehr zur rechtlichen Verschlechterung, trotz vieler Proteste von Seiten der Menschenrechtsorganisationen finden Sie in der Fußnote. [4]




Wie sich wehren?

Natürlich gab es auch im Spätsommer wieder zahlreiche Proteste. Nach dem Tod der afghanischen Frau durch das Feuer protestierten mehr als 200 afghanische Frauen gegen die Bedingungen im Lager Moria über mehrere Tage. Auch die „Initiative Mitarbeiter*innen von NGOs in Mytilini“ organisierte im September einen Solidaritätsprotest, um auf die schlimme Lage innerhalb des Lagers von Moria und die neue restriktive Asyl- und Sozialpolitik gegenüber Geflüchteten und Migrant*innen aufmerksam zu machen.

Vielmehr als die Fakten, über die ich hier versuche zu schreiben, sagen meist persönliche Berichte von den Menschen aus dem Camp. Wer bin ich schon, der hier im warmen Zimmer sitzt, auf die Türkei schaut und von der Tragik eigentlich nur irgendwie als Beobachterin berichten kann. Das ist ungerecht, gehört werden sollten die, die das ganze Unglück aushalten müssen: deswegen hier Briefe einer jungen Afghanin, die in Moria lebt und bei uns im Welcome Office Griechisch lernt, aufgeschrieben von Welcome2Europe.  

Und hier ein Film von Geflüchteten, gemacht in einem Filmworkshop mit uns, über ihr Leben auf Lesbos.

Mir persönlich fällt es schwer auch noch die hundertste Anfrage von Journalist*innen, Politiker*innen und Forschenden zu beantworten, ist nicht alles schon gesagt? Waren nicht alle VIPs schon hier? Menschenrechtskommissare, die Prinzessin von Jordanien, Angelina Jolie, der Papst Franziskus, Politiker*innen aller Couleur und und und und.  Sicherlich sagen mir dann die Menschen aus Deutschland: „Doch, du musst darüber schreiben, da ist schon wieder nichts in den Medien. Wir bekommen das hier nicht mit“. Hier vor Ort ist die Präsenz der Medien allerdings sehr stark. Eigentlich sieht man ständig Journalist*innen, überall, aus der ganzen Welt. Mal die BBC, mal die New York Times, mal das Arte TV Magazin, die Bild Zeitung, Le Monde, El Pais, alle großen aber auch viele kleine. Jede und jeder kommt mal vorbei, um für seinen eigenen Blog auch noch was zu schreiben, zu filmen usw. Ob das nun was ändert, weiß ich nicht. Es ist nur komisch, wenn täglich so viele Berichte neu verfasst werden und sich die Situation dennoch nicht verändert.  Am Schwierigsten zu verstehen ist für mich, dass keiner die Verantwortung übernimmt. Es sterben Leute in Moria, alle drei Monate gibt es schwere Ausschreitungen, oder einen Brand. Und dann schieben sich der Campmanager, der/die Lokalpolitiker*in, das Migrationsministerium, die EU-Politik die Schuld gegenseitig zu. Die Idee, diese Hotspots zu schaffen, kommt zweifelsohne von der EU Kommission mit Unterstützung von zahlreichen Politiker*innen,  damit bloß keiner weiterreisen kann, ganz vorne dran natürlich Deutschland, als mächtiger Player in der EU- Politik, damit dann nun wieder Deutschland Griechenland dafür verantwortlich machen kann, dass hier Menschen in solchen Zuständen leben. Das ist doch alles schizophren. Am Ende müssen Privatleute und Flüchtlingsinitiativen den Camp-Bau um Moria übernehmen, Zelte besorgen, Schlafsäcke verteilen, den Schlamm mit Kies bestreuen und den Müll entsorgen, weil wieder irgendjemand dafür oder hierfür nicht zuständig ist, eingeschlossen dem UN Flüchtlingswerk, welches bei jeder Kritik an den Zuständen, die an sie heran getragen wird, wie in Dauerschleife wiederholt: “Wir sind nur hier, um die Behörden zu unterstützen“. Dann aber im Werbespot im Fernsehen groß verkünden: „We stand with refugees“. Kein Kommentar.

P.S.: Zu unserer Arbeit auf Lesbos bitte besucht unsere Webseite: www.borderlinelesvos.org 

Über Kontakt würden wir uns ebenfalls sehr freuen, Feedback, Kommentare sind immer willkommen.



[1] Quellen UNHCR Statistik: https://data2.unhcr.org/en/situations/mediterranean/location/5179
und Aegean Boat Report: https://aegeanboatreport.com/reports/

[2] https://greece.greekreporter.com/2015/11/01/new-tragedy-11-refugees-and-six-children-drown-in-the-aegean-sea/

[3] http://unitedagainstrefugeedeaths.eu/about-the-campaign/about-the-united-list-of-deaths/

[4] https://www.hrw.org/news/2019/10/29/greece-asylum-overhaul-threatens-rights, http://legalcentrelesvos.org/2019/10/17/report-on-rights-violations-resistance-in-lesvos-october-2019/