04.02.2022

Ein junger Mann aus dem Tschad hinter Gittern: Ist das Gerechtigkeit?

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Ahmed, ein junger Mann aus dem Tschad wurde vom italienischen Staat für den Schiffbruch vom 11. November 2020 verantwortlich gemacht und zu 6 Jahren und 8 Monaten Haft sowie einer Geldstrafe von 1.200.000 Euro verurteilt.
Mehr als ein Jahr ist vergangen. Nach diesem Schiffsunglück gab es viele weitere Tote und andere Tragödien, daher es mag heute schwierig sein, sich an dieses Ereignis und die Worte, die darüber verloren wurden, zu erinnern. Doch vor einem Jahr war dieses Schiffsunglück auf den Titelseiten einiger Zeitungen, weil dabei auch ein sechs Monate altes Kind, Youssef aus Guinea, ums Leben kam. Die Nichtregierungsorganisation Open Arms veröffentlichte damals ein Video mit den verzweifelten Schreien der überlebenden Mutter, um das taube Europa mit der Stimme derer zu konfrontieren, die im Mittelmeer vergessen und zurückgelassen werden.

In den darauffolgenden Tagen wurde die italienische und europäische Politik heftig beschuldigt, nicht an der legalen Einreise von Migrant*innen und der Rettung der Menschen, die zur Überfahrt gezwungen sind, interessiert zu sein. Anstatt Rettungsschiffe zu finanzieren, werden sie beschlagnahmt. Anstatt die Menschen zu retten, überlässt Europa sie sie dem Tod. Anstatt sie willkommen zu heißen, weist es sie zurück.

All dies war im November 2020 klar, als die Staatsanwaltschaft von Agrigent abseits des Rampenlichts gegen den 21-jährigen jungen Mann ermittelte, anstatt die institutionelle Verantwortung für eine weitere Tragödie im Mittelmeerraum aufzuklären. Denn wenn ein sechs Monate altes Kind stirbt, ist die Empörung groß und jemand muss auf der Anklagebank landen. Und wer, wenn nicht der "boat driver", der Sündenbock, auf den Europa und Italien weiterhin ihre Verantwortung abladen?

Ahmed wurde am 27. November 2020 in Trapani verhaftet, nachdem er das ‚Quarantäneschiff‘ verlassen hatte, auf dem er mit den anderen Überlebenden festgehalten worden war. Zu den Anklagen wegen schwerer Beihilfe zur unerlaubten Einreise und Tod infolge einer anderen Straftat kam diesmal eine weitere hinzu: fahrlässiger Toschlag wegen Schiffbruch. Dieser letzte Anklagepunkt hat in erster Linie einen bestrafenden Charakter, da die Tatbestandsmerkmale des Totschlags bereits mit den erschwerenden Tatbestandsmerkmalen der Beihilfe zur unerlaubten Einreise verbunden sind. Das bedeutet, dass Ahmed zweifach dafür bestraft wird, dass er ein Boot mit Geflüchteten gesteuert hat, von denen einige den Schiffbruch nicht überlebten.

Am 02. Februar 2022 verurteilte das Gericht von Agrigento Ahmed zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren und 8 Monaten und ging damit sogar über die Forderungen der Staatsanwaltschaft hinaus. Ahmed wurde für die unsichere Reise, den Schiffbruch und den Tod dieser Menschen, einschließlich des kleinen Youssef, verantwortlich gemacht.  Für den 21-jährigen jungen Mann ist das eine viel zu große Verantwortung, wenn man bedenkt, wie die Fahrer der Boote, die Libyen verlassen, ausgewählt und oft unter Drohungen und Folter der Menschenhändler zum Fahren gezwungen werden. Es war nicht Ahmed, der eine gefährlichen Seereise die einzige Möglichkeit machte, Europa zu erreichen; es war nicht er, der sich weigerte, Menschen im Mittelmeer zu retten und die Aufgabe an einige wenige NGOs delegierte, die zudem oft kriminalisiert werden.

All dies wurde jedoch nicht als wichtig erachtet.
Italien hat seinen Schuldigen gefunden.


Boat drivers support group
Arci Porco Rosso Palermo - Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen von borderline-europe

© Foto by Max van den Oetelaar via Unsplash