Bericht: Prozess gegen Hamza Haddi & Mohamed Haddar

04.02.20 in Komotini, Nordgriechenland

Achim Rollhäuser (AED-EDL*), Julia Winkler (borderline-europe)

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Hintergrund

Hamza Haddi und Mohamed Haddar waren in Komotini angeklagt, zwei andere Marokkaner, u. a. den Bruder von Hamza Yassine Haddi, illegal nach Griechenland befördert zu haben. Außerdem wurden sie wegen ihrer eigenen illegalen Einreise belangt. Erschwerend wurde ihnen zu Last gelegt, aus Gewinnstreben gehandelt zu haben.

Der dem Fall zugrundeliegende Sachverhalt stellt sich nach Aussagen der Angeklagten und der beiden anderen eingereisten Marokkanern, die als Zeugen vernommen wurden, so dar: Hamza und Yassine reisten nach Istanbul, um von dort nach Europa weiter zu reisen und sich so der Verfolgung der marokkanischen Behörden wegen ihrer politischen Tätigkeiten zu entziehen. Verwandte von ihnen hatten bereits politisches Asyl in anderen europäischen Ländern erhalten.

In Istanbul trafen sie zwei andere Marokkaner und beschlossen, mit ihnen zusammen die Grenze nach Griechenland, die im europäischen Teil der Türkei durch den Fluß Evros gebildet wird, zu überqueren. Man fand einen Fluchthelfer, der sie bis zu einem Inselchen im Fluß (von denen es vor allem im Sommer bei dem wenig Wasser führenden Fluß viele gibt) brachte und sie dann sich selbst überließ. Die vier übernachteten auf der Insel und fanden am nächsten Tag einen morschen Kahn, mit dem sie sich in Richtung des griechischen Ufers aufmachten. Alle vier wechselten sich beim Rudern ab; kurz vor Erreichen des griechischen Ufers hielten Hamza und Mohamed die Ruder.

Auf der griechischen Seite angekommen, wurden alle von der Grenzpolizei festgenommen und gegen Hamza und Mohamed ein Strafverfahren eröffnet, weil sie die Ruder in der Hand hielten. Sie hätten sich strafbar gemacht, weil sie mittels ihres Ruderns die anderen beiden nach Griechenland verbracht hätten.

§ 30 des Migrationsgesetzes in der Fassung von 2014 lautet:

1. Kapitäne oder Kommandeure von Schiffen, schwimmenden [Transport-]Mitteln oder Luftfahrzeugen sowie Fahrer aller Art von Transportmitteln, die Drittstaatsangehörige, die das griechische Hoheitsgebiet nicht betreten dürfen oder denen die Einreise aus irgendeinem Grund verweigert wurde, aus dem Ausland nach Griechenland befördern sowie diejenigen, die sie [die Drittstaatsangehörigen] an den Stellen ihrer Einreise, an den Außen- oder Binnengrenzen in Empfang nehmen, um sie in das Landesinnere oder in das Hoheitsgebiets eines EU-Mitgliedstaats oder einen Drittstaat zu befördern oder die ihren Transport erleichtern oder ihnen Unterkunft als Versteck gewähren, werden wie folgt bestraft:

a. mit einer Freiheitsstrafe [Zuchthausstrafe] von bis zu zehn (10) Jahren und einer Geldstrafe von zehntausend (10.000) bis dreißigtausend (30.000) Euro für jede transportierte Person,

b. mit einer Freiheitsstrafe [Zuchthausstrafe] von mindestens zehn (10) Jahren und einer Geldstrafe von dreißigtausend (30.000) bis sechzigtausend (60.000) Euro für jede transportierte Person, wenn der Täter aus Gewinnstreben oder gewerblich oder gewohnheitsmäßig handelt oder rückfällig geworden ist oder im öffentlichen Dienst beschäftigt ist oder ein Mitarbeiter oder eines Tourismus-, Schifffahrts- oder Reisebüros ist oder wenn zwei oder mehr zusammen handeln,

c. mit einer Freiheitsstrafe von mindestens fünfzehn (15) Jahren und einer Geldstrafe von mindestens zweihunderttausend (200.000) Euro für jede transportierte Person, wenn die Tat zu einer Gefahr für Menschen führen kann,

d. mit lebenslanger Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe von mindestens 700.000 Euro für jede transportierte Person, wenn im Fall des Buchstabens c der Tod eintritt.

2.-5. ...

6. Die vorstehenden Sanktionen gelten nicht für die Rettung von Personen auf See sowie für den Transport von Personen, die gemäß den Bestimmungen des internationalen Rechts internationalen Schutz benötigen.



Hamza und Mohamed wurde zur Last gelegt, daß sie sowohl aus Gewinnstreben gehandelt hätten – daß sie für das Rudern irgendeine Gegenleistung erhalten hätten, ergibt sich jedoch nirgends aus der Akte – und daß sie gemeinsam gehandelt hätten. (Wäre nur einer gerudert, wäre dieser Punkt entfallen.) Mit diesen Qualifikationen gilt die Handlung als Verbrechen. Es drohte ihnen also für jeden der beiden "Mitreisenden" eine Mindeststrafe von 10 Jahren = insgesamt mindestens 20 Jahre und außerdem eine Gesamt-Geldstrafe von 60.000-120.000 €.


Die Gerichtsverhandlung

Die Verhandlung fand am 04.02.20 in Komotini, Griechenland, statt. Der Prozeß war im Dezember bereits einmal vertagt worden, weil der einzige für die Sache geladene Belastungszeuge, der festnehmende Polizeibeamte, krank war.

Die Richterbank war mit einer Einzelrichterin besetzt. Das ist eine Neuerung der letzten Strafprozeßreform vom Juli 2019, denn bisher mußte bei Verhandlungen wegen Verbrechen immer ein dreiköpfiges Richtergremium entscheiden. Neben der Richterin saß gemäß der üblichen Anordnung rechts (von der erhöhten Richterbank aus gesehen) der Staatsanwalt und links der Protokollführer. Die Angeklagten sitzen unten auf Stühlen, mit dem Gesicht zum Gericht (Rücken zu den Zuhörer*innen), die Anwält*innen sitzen auf Bänken oder Stühlen rechts und links seitlich, in der Regel auf selber Höhe mit den Angeklagten und den Zuhörer*innen. Der Zuhörer*innenraum, in dem zunächst auch die Zeug*innen Platz nehmen müssen, ist durch eine gut 1 m hohe Holzschranke von Gericht, Anwält*innen und Angeklagten abgetrennt.

Das Verfahren war die letzte der für diesen Tag terminierten Verhandlungen mit der Nr. 18 auf dem Aushang. Da nur wenige Verfahren stattfanden – die meisten wurden vertagt oder aus anderen Gründen verschoben –, begann der Prozeß gegen 11.30 Uhr. Auch dieses Mal war der Polizeibeamte wieder nicht erschienen, angeblich schon wieder krank. Es stellte sich die Frage, ob die Verteidigung ihrerseits nun wieder Vertagung beantragen solle, da der Verteidiger den Beamten gerne zum Zustandekommen seiner Aussage befragt hätte. Der Verteidiger besprach sich mit der Familie von Hamza – Yassine war sowieso vor Ort, eine Schwester war aus Italien und zwei enge Bekannte aus Marokko angereist. Εs wurde entschieden, daß trotz Ausbleibens des Grenzpolizisten verhandelt werden solle, um den Prozeß nicht noch weiter hinauszuzögern, außerdem die Präsenz der vielen extra angereisten Zeug*innen und Unterstützer*innen nach gemeinsamer Einschätzung schwerer wog und genutzt werden sollte.

Der Gerichtssaal war zum Zeitpunkt des Beginns der Verhandlung noch nicht vollständig mit Zuhörer*innen gefüllt. Da aber in Komotini sowohl linke als auch anarchistische Gruppen zur Prozeßteilnahme aufgerufen hatten, füllte er sich im Laufe der Verhandlung immer mehr, bis zuletzt etwa 40 Personen anwesend waren und er damit voll war. (Es gab auch eine gewisse Anzahl Jura-Studierender der Uni Komotini, einer der größten Jura-Fakultäten in Griechenland.)


Zunächst wurde die Anwesenheit der – aus der U-Haft vorgeführten – Angeklagten und der von der Verteidigung benannten Zeug*innen festgestellt. Benannt waren der Bruder, die Schwester, eine enge Bekannte von Hamza und Joachim Rollhäuser; Joachim R. als Repräsentant der Vereinigung Europäischer Demokratischer Anwält*innen und als Zeuge für den Umstand, daß das Verfahren mit großer Aufmerksamkeit auch aus dem Ausland verfolgt wird. Auch Julia Winkler (borderline-europe) und Sascha Girke (iuventa10) waren benannt; die Richterin machte jedoch sogleich klar, daß sie nicht alle Zeug*innen vernehmen werde und die Verteidigung sich auf vier beschränken solle. (Dazu ist zu sagen, daß das in Griechenland kein ungewöhnliches Verfahren ist.) Die Angehörigen durften im Saal bleiben; Joachim R. mußte den Saal verlassen.

Sodann wurde die schriftliche Aussage des festnehmenden Polizeibeamten verlesen. Danach wurden als Zeug*innen zunächst die Angehörigen und dann Joachim R. gehört. Für die Angehörigen und die Angeklagten selbst war ein Dolmetscher für die arabische Sprache anwesend. Der Anwalt hatte bereits die von borderline-europe initiierte Solidaritätserklärung mit den 46 Unterschriften übergeben, außerdem gesondert die Erklärung der AED-EDL (Europ. Demokr. Anwält*innen), die von Joachim R. mitgebracht worden war.

Anschließend wurden die Angeklagten gehört. Leider stellte sich die Sache so dar, daß sowohl die Richterin als auch der Dolmetscher so leise sprachen, daß man im Zuhörer*innenraum praktisch nichts verstehen konnte.

Das änderte sich erst, als der Verteidiger sein Plädoyer hielt. Er hob zunächst auf die Unsinnigkeit der Anklage ab insofern, daß nirgends etwas von irgendeinem Gewinn festgestellt worden sei und zweitens dieses Boot auf Fluß mit seiner Strömung schließlich nicht eine einzelne Person habe rudern können, drittens es völlig zufällig gewesen sei, wer gerade die Ruder in den Händen gehabt habe und schließlich es sich bei den Vieren um politische Flüchtlinge gehandelt habe bzw. handele; vgl. Abs. 6 des § 30 MigrG. Die einzig richtige Entscheidung sei daher ein Freispruch.

Der Staatsanwalt folgte dem zwar nicht, ließ aber die straferschwerenden Merkmale des Gewinnstrebens und des gemeinsamen Handelns fallen und beantragte, die beiden Angeklagten zu verurteilen. Die Richterin verurteilte antragsgemäß.

Sodann ging es um die Strafhöhe. Die Verurteilung erfolgt nach griechischem Recht in zwei Stufen. Zunächst geht es darum, wegen welcher Taten verurteilt oder freigesprochen wird, danach wird gesondert und nach nochmaliger Anhörung des Verteidigers die Strafhöhe festgelegt. Der StA beantragte eine Strafe für jeden der beiden Angeklagten von 4 Jahren und 1 Monat (3 + 3 Jahre für jeden Beförderten, zusammengezogen zu 4 Jahren für die Beförderung der beiden anderen, 2 Monate für die eigene illegale Einreise, alles zusammengezogen zu 4 J. und 1 Monat Freiheitsstrafe) unter Berücksichtigung der Milderungsgrunds der bisherigen Unbescholtenheit. Die Richterin folgte ihm auch hierin. Eigentlich hätte entsprechend dem Gesetz zusätzlich eine Geldstrafe verhängt werden müssen. Aber weder wir als Zuhörer*innen noch der Anwalt haben davon etwas mitbekommen. Auch im Urteilstenor steht davon nichts.

Nach griechischem Recht kann eine bedingte Entlassung nach 2/5 der verbüßten Strafe erfolgen (in Deutschland nach 2/3). 2/5 von 48 Monaten sind 19,6 Monate. Die Angeklagten haben von der verhängten Strafe knapp 7 Monate durch U-Haft verbüßt. Sie haben also noch ungefähr 12 ½ Monate Strafhaft vor sich.

Es wird im Hinblick auf die Gesamtverbüßungszeit darauf ankommen, ob sie im Gefängnis Komotini arbeiten können. (Zumindest Hamza hat schon drei Monate gearbeitet.) Durch Arbeit verkürzt sich die Haftzeit. Um wieviel, hängt von der Schwere der Arbeit ab. Der Anwalt erklärte, daß es im Gefängnis Komotini durchwegs nur Arbeiten gebe, bei denen das Minimum der Anrechnung gelte, also 1 Arbeitstag wie 1,5 Hafttage gerechnet werde. D. h. daß man durch 8 Monate Knastarbeit 12 Monate Strafhaft verbüßen kann. Wenn es also mit der Arbeit klappen sollte, könnten die beiden nach gut 8 Monaten entlassen werden. Das scheint so aber nicht wahrscheinlich zu sein, weil es im Gefängnis Komotini nicht genug Arbeit für alle Gefangenen gibt und sie daher nur abwechselnd arbeiten können.

Der Anwalt wird in Berufung gehen. Es kann sein, ist aber überhaupt nicht sicher, daß die Berufungsverhandlung noch vor vollständiger Verbüßung der restlichen Strafe stattfindet. Wenn dann das Berufungsgericht die Strafe mildern sollte – was in Griechenland in der Regel der Fall ist –, könnte eine Entlassung auch schon vorher stattfinden. Hier ist alles offen.

Der Verteidiger erklärte, daß er in der Berufung weiterhin auf Freispruch plädieren werde. Das sei auch schon im Hinblick darauf von Bedeutung, daß bei einer Verurteilung wegen eines Verbrechens in der Regel kein Asyl gewährt werde. Zwar würde gerade im Hinblick auf Hamza zwar keine Abschiebung erfolgen, aber sein Status wäre natürlich trotzdem ein anderer und unsicherer, als wenn ihm politisches Asyl gewährt würde.

Insgesamt ist der Ausgang des Prozesses als relativer "Erfolg" zu bewerten. Natürlich ist es kein Sieg; ein Sieg wäre ein Freispruch gewesen. Dem Anwalt zufolge war dies jedoch das "zweitbeste" Ergebnis nach einem Freispruch, welcher eigentlich von vornherein quasi unmöglich schien. Im Vergleich zu anderen Urteilen in solchen Prozessen ist das Urteil niedrig.


Auswirkungen der Öffentlichkeitsarbeit
 
Die Öffentlichkeitsarbeit hat nach der Einschätzung aller Beteiligten eine entscheidende Rolle gespielt. So wurde in Form der Solidaritätserklärung, der Mandatierung und Zeugenaussage Joachim R.s als Vertreter der AED-EDL und der Anwesenheit zahlreicher Zuhörer*innen der öffentliche Druck wesentlich erhöht. Solche Dinge sind in Griechenland erfahrungsgemäß wichtig, wahrscheinlich wichtiger als in Deutschland. Es wird sehr genau geguckt, wer und wie sich im Ausland zu solchen Verfahren verhält.

Letztlich ist jedoch festzuhalten, dass die Erfahrungen im Fall von Hamza & Mohamed nicht ohne weiteres auf andere Fälle übertragen werden können. Die großen Mehrheit der Menschen, die verhaftet und verurteilt werden, fehlt es an all den oben genannten Merkmalen und Unterstützung. Und es wird nicht möglich sein, diese für jeden einzelnen von ihnen zu organisieren. Außerdem muss noch angemerkt werden, dass Hamza Haddi zudem ein bekannter politischer Aktivist ist. Er ist in eine politische Struktur eingebettet. Sonst hätten wir wahrscheinlich nie von ihm gehört.

Diese Problematik kann nicht (nur) auf individueller Ebene von Fall zu Fall bekämpft, sondern muss auf politischer Ebene angegangen werden.


* Vereinigung Europäischer Demokratischer Anwält*innen: http://www.aeud.org/


Mehr Informationen:



Der Fall von Hamza und Mohamed ist leider kein Einzelfall. Der Fall von Hamza und Mohamed ist leider kein Einzelfall, sondern paradigmatisch für eine weitere Facette der europäischen Grenz- und Abschottungspolitik. Während europäischen Unterstützer*innen und"Menschenrechtsverteidiger*innen" wie Carola Rackete oder die iuventa10 in letzter Zeit viel Aufmerksamkeit und Unterstützung erhielten, nachdem sie zur Zielscheibe zunehmender Kriminalisierung wurden, gibt es jedoch kaum Informationen oder Unterstützung für diejenigen, die ohne europäischen Pass mit den gleichen Anschuldigungen konfrontiert sind. Sie sind es aber, die die Mehrheit derer ausmachen, die in Italien und Griechenland wegen angeblichen "Schmuggels" und "Beihilfe zur illegalen Einwanderung" verhaftet und inhaftiert werden. Viele von ihnen werden unmittelbar nach ihrer Ankunft verhaftet und verschwinden unbemerkt, namenlos und ohne Zugang zu Unterstützung von außen.

Grundlage dafür ist die griechische Gesetzgebung. Danach gilt jede Person als Schmuggler*in, die ein Gefährt steuert, mithilfe dessen Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere nach Griechenland einreisen.ist.

Die Anwendung des Gesetzes erfolgt dabei zumeist willkürlich. Grenzpolizist*innen verhaften die Person, die das Ruder oder die Pinne hält, um das Boot zu lenken, oder die, die mit der Küstenwache kommuniziert hat, um Hilfe zu rufen, oder einfach jemanden, der*die Englisch spricht und beschuldigen sie dann des Schmuggels. In Griechenland dauert eine diesbezügliche Gerichtsverhandlung im Schnitt lediglich 30 Minuten und mündet in einer durchschnittlichen Freiheitsstrafe von 44 Jahren und  Geldstrafe von 370.000 Euro. Die Angeklagten haben in der Regel nur begrenzt Zugang zu Rechtsbeistand; die meisten von ihnen sind auf Pflichtverteidiger*innen angewiesen. Beobachter*innen äußern Besorgnis über einen "schockierenden Mangel rechtsstaatlicher Standards" und berichten, dass Urteile oft trotz fehlender Beweise und schlechter Übersetzung gefällt werden.