28.03.2022

Erster Quartalsbericht: From Sea to Prison - Jenseits der Forschung

Vom Meer ins Gefängnis: Jenseits der Recherchen - Erster Quartalsbericht von Arci Porco Rosso 

Übersetzung ins Deutsche von borderline-europe e.V. 

Nach einem Jahr der Projektarbeit, veröffentlichten wir den Bericht “From Sea to Prison: The Criminalization of Boat Drivers in Italy". Die Recherchen dafür wurden von Aktivist*innen aus unserem Verein durchgeführt, zusammen mit den Organisationen Borderline Sicilia und borderline-europe und mithilfe der Unterstützung des transnationalen Netzwerks Alarm Phone. Nach den ersten Ergebnissen ist eine Arbeitsgruppe entstanden, mit der wir sowohl die bisher durchgeführten Aktivitäten fortsetzen, als auch unsere Arbeit auf Bereiche jenseits der Recherche erweitern wollen.

Die Interviews mit den Betroffenen haben uns sehr viel zurückgegeben und um nicht dem ausbeuterischen Ungleichgewicht zu verfallen, das häufig zwischen Forscher*innen auf der einen und Migrant*innen auf der anderen Seite entsteht, haben wir beschlossen die Recherche an zweite Stelle zu setzen und uns vorrangig auf die Unterstützung kriminalisierter Personen zu konzentrieren. Der Ansatz, den wir über die Jahre in unserer Anlaufstelle für undokumentierte Migrant*innen Sportello Sans-Papiers entwickelt haben, basiert auf aktivem Zuhören, der Übernahme von Verantwortung für die Betroffenen und dem Aufbau von Unterstützungsnetzwerken. In letzteren werden Menschen, die kriminalisiert wurden, selbst zu den Protagonist*innen der Solidaritätsbewegung. Aus diesen Gründen erneuern wir unsere Zusammenarbeit im Rahmen des Projekts "Dal Mare al Carcere“ („Vom Meer ins Gefängnis”) mit borderline-europe und Borderline Sicilia. Wir freuen uns außerdem, dass auch Seenotrettungsorganisationen - Mitstreiter*innen im Kampf für bedingungslose Bewegungsfreiheit - unsere Arbeit mit großzügigen Spenden unterstützen.

Dank der Organisation Iuventa und dem Sea-Watch-Rechtshilfefonds kann unsere Gruppe ihre Arbeit fortsetzen. In den kommenden Monaten werden wir über die Fortschritte unserer Arbeit berichten. Nicht nur um unsere Ergebnisse darzustellen und uns für die erhaltene Unterstützung und Partnerschaft zu bedanken, sondern auch um unser Vorgehen mit unseren Netzwerken zu teilen.  Unser Engagement beruht auf drei Leitmotiven: Unterstützung, Recherche und Netzwerk.

Sozialrechtliche Unterstüzung

Die Menschen, die wir im Rahmen des Projekts unterstützen möchten, haben nur zwei Dinge gemeinsam: Sie sind alle auf dem Seeweg nach Italien eingereist und sie wurden alle wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung angeklagt. Einige sind bereits vor Jahren verurteilt worden, andere sind gerade erst angekommen und befinden sich inmitten eines Strafverfahrens. Abgesehen von diesem juristischen Kontext haben wir es mit Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen, aus verschiedenen Kulturen und in sehr unterschiedlichen Lebenssituationen zu tun: Von Hochschulabsolventen bis zu Analphabeten, von Landwirten bis zu Fußballspielern oder Lehrern, von älteren Menschen bis zu jungen Erwachsenen.  Wir verfolgen die Fälle von etwa fünfzig Personen, mit denen wir größtenteils direkten Kontakt haben. Die Hälfte stammt aus Westafrika, eine große Zahl aus Nordafrika, andere aus dem Tschad und Afghanistan. Die Hälfte von ihnen ist inhaftiert, einige werden in einer Rückführungshaftanstalt (CPR) festgehalten. Wir stellen den Kontakt zu den Inhaftierten durch Briefe her, die wir gemeinsam mit anderen Aktivist*innen unseres Netzwerks schreiben. In gemeinsamen Schreibsitzungen bauen wir eine Beziehung zu den Inhaftierten auf und teilen verbundene Freuden und Sorgen. Wir versuchen dabei Menschen einzubeziehen, die Interesse an, oder Erfahrungen mit Haft und Kriminalisierung haben und unterstützen diese beim Schreiben, wenn sie Analphabeten sind.

Wir haben auch Kontakte zu Anwält*innen aufgenommen, die einige der Fälle verfolgen. Bei den Fällen handelt es sich sowohl um Personen, die gerade erst in Italien angekommen sind als auch um jene, die bereits rechtskräftig verurteilt wurden. In einigen dieser Fälle unterstützen wir die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens. In anderen Fällen ist die Zusammenarbeit mit Rechtsanwält*innen von grundlegender Bedeutung, um Menschen alternative Strafmaßnahmen zur Inhaftierung anbieten zu können (für einige Personen versuchen wir, eine Hausarrestregelung zu organisieren) oder zur Unterstützung der Beendigung der Haft. Dabei liefern wir notwendige Informationen über die verschiedenen Formen und Möglichkeiten des Schutzes, um eine Überführung in die Rückführungshaft zu verhindern.  Ein weiterer Teil unserer Arbeit besteht darin, Anhörungen von Personen zu verfolgen, gegen die noch ein Strafverfahren läuft. Auf diese Weise konnten wir den Fortgang einiger Fälle aus der Nähe verfolgen. Wir konnten den Anwält*innen Ressourcen und Unterstützung zur Verfügung stellen. Diese bezieht sich auf die Suche nach neuen Beweisen und den Zugang zu nützlichem Material für die Verteidigung der kriminalisierten Person, sowie auf politische Berichterstattung. So haben wir beispielsweise den Fall von Ahmed verfolgt und an seinen Anhörungen teilgenommen. Ahmed ist ein junger Mann aus dem Tschad, der vor einem Monat zu fast sieben Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Der Fall enthüllt das Maß an Zerfall in der italienischen Justiz, wenn es darum geht, dem Sterben an den Grenzen des Landes etwas entgegenzustellen. Nach dieser verzerrten Logik wird ein junger Mann für den Tod der Menschen, die mit ihm unterwegs waren, verantwortlich gemacht, obwohl er sich selbst auf der Flucht befand. Gleichzeitig wird die Verantwortlichkeit europäischer Entscheidungsträger*innen, die tatsächlich für diese Tode verantwortlich sind, nicht einmal untersucht. Wir haben in Zusammenarbeit mit Borderline Sicilia einen ausführlichen Bericht dazu veröffentlicht. 

Recherche

Unser Bericht von Oktober 2021 enthielt eine Datenanalyse, die wir auf der Grundlage von öffentlich zugänglichen quantitativen Daten, sowie Daten aus der systematischen Auswertung von Nachrichtenberichten, erstellt haben. Mit dieser Methode konnten wir fast tausend Fälle ermitteln (zumindest die Nationalitäten der beschuldigten Personen) und anhand der Daten darauf schließen, dass seit 2013 mehr als 2.500 Personen beschuldigt wurden, Schmuggler oder Teil einer Schmugglergruppe zu sein. Trotz der Nützlichkeit dieser Daten sind die Ergebnisse vorläufig und ungenau. Daher haben wir in den letzten Monaten die ersten Anträge auf einen bürgerrechtlichen Zugang zu Informationen in Form von FOIA (Freedom of Information Act) bei den Staatsanwaltschaften der sizilianischen Gerichte gestellt. Damit möchten wir an zuverlässigere und wissenschaftliche Daten gelangen. Gleichzeitig haben wir unsere systematische Prüfung der Nachrichten fortgesetzt, eine Aufgabe, bei der wir eng mit borderline-europe zusammenarbeiten, die diese Arbeit bereits seit sechs Jahren durchführen. 

Netzwerkarbeit

Die Entwicklung eines Netzwerks - oder mehrerer Netzwerke - ist ein wichtiger Punkt, um das Wissen über dieses Phänomen innerhalb unserer Bewegungen zu vergrößern, Solidaritätsstrategien zu teilen und Informationen mit Fachleuten und Aktivist*innen auszutauschen. Wir arbeiten auf drei Ebenen: lokal, national und transnational. Auf lokaler Ebene schließen wir uns einem bereits bestehenden Netzwerk verschiedener Personen an, die als Bootsfahrer angeklagt wurden und bieten unsere Solidarität und Unterstützung an. Einige davon sind bereits aus dem Gefängnis entlassen worden, andere warten auf den Abschluss ihrer Verfahren oder sind glücklicherweise freigesprochen worden. Einige von ihnen sind inzwischen unsere Freunde. Bei Pizza, Bier und vielen Gesprächen tauschten wir bereits Ideen für die Zukunft des Projekts und der Recherche aus. Wir versuchen einen offenen Austausch zu ermöglichen, um die Menschen, die Kriminalisierung erlebt haben, in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit zu stellen. Trotz sprachlicher und kultureller Barrieren waren unsere Treffen von einer offenen Atmosphäre und dem Wunsch geprägt, einander kennen zu lernen und gemeinsam etwas aufzubauen. Zum ersten Mal konnten wir nun auch mit der Hilfe von Simultanübersetzer*innen ins Arabische, Englische und Russische übersetzen. So wurde ein möglichst barrierefreier Raum für Zusammenkunft und Austausch geschaffen.

Auf nationaler Ebene haben wir die ersten Kontakte zu den bereits bestehenden und aktiven Organisationen und Netzwerken in anderen maritimen Grenzgebieten, insbesondere in Kalabrien und Apulien, hergestellt. Die Arbeit auf nationaler Ebene steht noch ganz am Anfang und wir hoffen, dass sie schnell Gestalt annimmt und einen Bezugspunkt sowie ein Netzwerk für kriminalisierte Menschen darstellt.  Der Bericht und das Projekt wurden im Verein Arci Tavola Tonda in Palermo und in Catania bei Cobas vorgestellt. Dies waren starke Momente, an denen auch andere Akteur*innen und Protagonist*innen beteiligt waren: Darunter die Anwältin Serena Romano von Cledu, der Anwalt Filippo Finocchiaro von Asgi und Alfonso di Stefano vom Antirassistischen Netzwerk Catania. Wir möchten uns auch bei borderline-europe bedanken, die uns im November nach Berlin eingeladen haben, um unsere Recherche zusammen mit Dimitris Choulis vom "Human Rights Legal Project" (Griechenland), Eric Mbiakeu, einem Freund und Künstler aus Kamerun, der 2018 wegen des Fahrens eines Bootes angeklagt wurde sowie Sascha Girke von Iuventa, zu präsentieren. Zudem danken wir Arci Nazionale dafür, dass wir beim Sabir-Festival im Oktober letzten Jahres in Lecce zu Gast sein durften. Die Präsentation in Lecce kann hier auf Italienisch angesehen werden, die Präsentation in Berlin - auf Englisch - hier.

Wir enden mit einem Zitat von Nelson Mandela, das uns sehr am Herzen liegt: „Frei zu sein bedeutet nicht nur, seine eigenen Fesseln zu lösen, sondern ein Leben zu führen, das auch die Freiheit anderer respektiert und fördert.“

Lest hier den Bericht "From Sea to Prison - The Criminalization of Boat Drivers in Italy"

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dalmarealcarcere@arci.it

https://fromseatoprison.info