24.06.2022

Iuventa: "Wir riskieren 20 Jahre Haft, aber sie werden die Solidarität nicht beenden!"

Am 21. Mai 2022 reisten vier Crewmitglieder des zivilen Such- und Rettungsschiffs "Iuventa" für den ersten Prozesstag der Voruntersuchung zum Gericht in Trapani auf Sizilien. Das Gericht wird in dieser Voruntersuchung entscheiden, ob sie wegen "Beihilfe zur irregulären Einwanderung" von Geflüchteten nach Italien angeklagt werden. Die vier Angeklagten der Iuventa-Crew trugen zur Rettung von mehr als 14.000 Menschen bei, die sich von Libyen aus auf den Weg nach Europa gemacht hatten. Im Falle einer Verurteilung drohen ihnen jeweils bis zu 20 Jahre Haft.

Insgesamt sind 21 Personen, unter anderem von Ärzte ohne Grenzen, Save the Children und der Iuventa, sowie eine Reederei, angeklagt. Was vor dem Gericht in Trapani verhandelt wird, sind nicht nur einzelne Seenotrettungsoperationen und deren Hintergründe, sondern auch und vor allem die immer weiter fortschreitende Kriminalisierung der Solidarität und der Ausübung von Menschenrechten, die Rolle Italiens in der Einschränkung der Zivilgesellschaft und die möglicherweise verheerenden Auswirkungen des Falles für Menschen auf der Flucht. Nachdem Italien 2014 die Seenotrettungsmission Mare Nostrum im Mittelmeer eingestellt hat, waren es zivilgesellschaftliche Organisationen, die die hinterlassene Lücke auf dem Meer gefüllt haben, um das Leben von Geflüchteten und Migrant*innen in Not auf der zentralen Mittelmeerroute zu retten – die tödlichsten Migrationsroute der Welt.

Die Iuventa wurde 2017 von italienischen Behörden beschlagnahmt und ist seitdem im Hafen von Trapani festgesetzt. Es wurden weitreichende Ermittlungen eingeleitet. Trotz der Tatsache, dass Zehntausende auf dieser tödlichen Route nach Europa ertrunken sind, argumentiert die Staatsanwaltschaft erneut damit, dass die Rettungen nicht aus Seenot erfolgten, sondern dass die Crew mit Schmugglern kooperierte. Diese Tendenz schränkt nicht nur den zivilen Raum für die Verteidigung der Menschenrechte ein, sondern hat auch weitreichende Folgen für die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen im Allgemeinen. Such- und Rettungs-Organisationen werden immer wieder zur Zielscheibe einer systematischen Repressions- und Kriminalisierungskampagne. Zudem geben unzulässige Ermittlungspraktiken – wie beispielsweise das illegale Abhören von Journalist*innen und Anwält*innen – Anlass zur Sorge. Um sicherzustellen, dass der Prozess fair und transparent abläuft, haben das European Center for Constitutional and Human Rights, Amnesty International, Giuristi Democratici, Demokratische Jurist*innen der Schweiz und die European Association of Lawyers for Democracy & World Human Rights beantragt, an den Anhörungen teilzunehmen.

Eine Pressekonferenz wurde vom European Center for Constitutional and Human Rights, Amnesty International, borderline-europe, European Association of Lawyers for Democracy & World Human Rights, Giuristi Democratici und Demokratische Jurist*innen der Schweiz am 17. Mai organisiert. Das Video zur Pressekonferenz ist hier abrufbar.

Am Vorabend des ersten Prozesstages luden das Arci Porco Rosso und die Aktivist*innen in Palermo zu einem antifaschistischen Fest ein, um sich mit der Besatzung der Iuventa zu solidarisieren.
Das Treffen am 20. Mai war eine Gelegenheit, um über den Kampf gegen die Solidarität zu sprechen, den viele Regierungen gegen Aktivist*innen führen.

Am 21. Mai hingegen standen wir vor dem Gericht von Trapani, um unsere uneingeschränkte Solidarität mit den Freund*innen der Besatzung des Schiffes "Iuventa" und denjenigen der anderen Rettungsschiffe, die derzeit vor Gericht stehen, zum Ausdruck zu bringen.
Wir versammlen uns auf der Straße, die Gericht und Hafen verbindet. Im Hintergrund ist die Iuventa zu sehen, die nun seit August 2017 dort festliegt und nicht mehr seetauglich ist.

Verteidigt die Menschenrechte und die Bewegungsfreiheit!
Stoppt die Kriminalisierung der Migration!
Freiheit für die Iuventa!

Timeline:

  • 21.05.22 Vorverhandlung in Trapani: Nach 5 Jahren Ermittlungen eröffnet das Gericht von Trapani die Vorverhandlung, in der entschieden wird, ob der Fall zu einem Prozess führt oder nicht. Die Anfrage der Anwält*innen und Angeklagten die Vorverhandlungen für die Öffentlichkeit, und somit für unabhängige Prozessbeobachter*innen zu öffnen wurde, von dem Richter genehmigt doch von der Staatsanwaltschaft vorerst abgelehnt. Aus der Anhörung hat sich ergeben, dass es verfahrenstechnische Fehler in den Ermittlungen gab, die die Staatsanwaltschaft in den kommenden Wochen beheben bzw. klären muss. Am 05.07.22 kommt es zu der nächsten Anhörung im Beisein der Angeklagten. 
     
  • 16.06.22 Aufschub: Aufgrund von Verfahrensfehlern der Staatsanwaltschaft in Bezug auf eine mangelnde Aufklärung der Angeklagten und den hiermit einhergehenden Grundrechtsverletzungen wurde das Verfahren bis zum kommenden Herbst ausgesetzt.


The trial against four crew members of the IUVENTA and 17 other defendants charged with “aiding and abetting unauthorised immigration” was suspended due to procedural errors by the prosecution. The judge rejected the prosecution’s claim that the procedural errors could be ignored.

29.10.22: Das Verfahren gegen vier Besatzungsmitglieder der IUVENTA und 17 weitere Angeklagte, denen "Beihilfe zur unerlaubten Einwanderung" vorgeworfen wird, wurde aufgrund von Verfahrensfehlern der Staatsanwaltschaft ausgesetzt. Der Richter wies die Behauptung der Staatsanwaltschaft zurück, die Verfahrensfehler könnten ignoriert werden.

31.10.22: 5 Jahre nach der Beschlagnahmung des iuventa-Schiffes wurde der Prozess am vergangenen Samstag, den 29. Oktober 2022, zum zweiten Mal vertagt, wiederum aufgrund von Fehlern der Staatsanwaltschaft. Eine anschließende freiwillige Befragung eines der iuventa-Angeklagten durch die Polizei musste nach wenigen Minuten wegen unzureichender Verdolmetschung abgebrochen werden. Die iuventa-Angeklagten baten darum, von ihrem Recht auf freiwillige Vernehmung durch die Behörden Gebrauch zu machen.

12.11.22: Trapani, 12. November 2022. Im größten Gerichtsverfahren gegen Besatzungsmitglieder der zivilen Seenotrettung gibt es seit fünf Jahren nicht nur keine ausreichenden Beweise, um die Beschlagnahmung eines Rettungsschiffes zu rechtfertigen, geschweige denn die Androhung von 20 Jahren Haft. Dieses Strafverfahren lässt auch die Grundprinzipien eines fairen Verfahrens vermissen.

03.12.22: Internationale Beobachter*innen wurden im Prozess gegen IUVENTA zugelassen und diese durften nun das erste Mal bei den Verhandlungen teilnehmen, was laut der Anwältin der Verteidigung für ein faireres Verfahren hilfreich sein kann. Weitere Fortschritte gibt es in dem Prozess aufgrund der Verfahrensfehler und Nicht-Gewährleistung eines den Standards entsprechendem fairen Verfahrens auf Seiten der Staatsanwaltschaft weiterhin nicht.

19.12.22: Nach einem Antrag von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni möchte der italienische Staat nun im Prozess gegen Iuventa als Zivilkläger zugelassen werden. Dies stellt die politische Motivation des Verfahrens, das sich weiterhin in der Vorverhandlung befindet, unter Beweis.

10.02.23: Trapani, 10. Februar 2023. In einer zehnstündigen Verhandlung vor dem Gericht von Trapani wurde letztendlich der Einspruch der IUVENTA-Anwält*innen wegen unzureichender Verdolmetschung während der Verhöre vom Richter zurückgewiesen. Zwar wurde anerkannt, dass viele Fehler gemacht wurden, jedoch seien diese nur als "Unregelmäßigkeiten" zu betrachten und würden der allgemeinen Fainess des Prozesses nicht im Wege stehen. Durch diese Entscheidung wendet sich der Richter auch gegen die Meinung der vom Gericht bestellten Sachverständigen, die die vom Gericht zur Verfügung gestellten Dolmetscher*innen als ungeeignet erklärten. Auch der Antrag des Innenministeriums sowie des Büros der Premierministerin wurden diskutiert, da dieser jedoch gravierende Fehler enthielt wurde er als unzulässig erklärt. Ein*e Regierungsvertreter*in musste sich darauf hin vor Gericht für diese Fehler entschulidgen. Die entgültige Enscheidung des Richters zur Beteiligung der Regierung wird bei der nächsten Verhandlung am 25.02.2023 bekannt gegeben.

12.02.2023: Das iuventa-Team erstattete Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Trapani wegen der Aufgabe des Rettungsschiffs iuventa und des daraus resultierenden Verfalles.

25.02.2023: In einer Vorverhandlung lehnte das Gericht den Antrag des Büros des Premierministers auf Teilnahme am Prozess ab; das Innenministerium wurde vielmehr formell als Drittpartei zugelassen, ohne jedoch auf den Inhalt seiner Forderungen einzugehen.

01.03.2023: Während der Vorverhandlung an diesem Tag ergriffen die iuventa-Verteidiger*innen das Wort, um der Opfer des tragischen Schiffsunglücks in Crotone zu gedenken. Anschließend versuchte die Staatsanwaltschaft, die italienische Gerichtsbarkeit und ihre territoriale Zuständigkeit zu verteidigen. Die Entscheidung des Richters über die von der Verteidigung vorgebrachten Einwände ist für den 15. März 2023 vorgesehen.

15.03.2023: Während das Gericht die Zuständigkeit Italiens für Seenotrettungseinsätze in internationalen Gewässern bestätigte, ist derzeit noch völlig unklar, ob die Staatsanwaltschaft in Trapani überhaupt für den gesamten Fall zuständig ist. Das Gericht enthielt sich jedoch einer Entscheidung und beschloss stattdessen, die Angelegenheit zur Klärung an das höchste italienische Gericht, den Kassationshof, zu verweisen. Obwohl diese grundsätzliche Frage bis zur Entscheidung des höchsten Gerichts offen bleibt, wird der Prozess in Trapani am 24. März fortgesetzt. 

12.05.2023: Die Anwälte der Iuventa Crew haben einen Antrag eingereicht, der den Verlauf des Prozesses radikal verändern könnte. Die Anwälte Francesca Cancellaro, Alessandro Gamberini und Nicola Canestrini bitten den Richter in Trapani, vor dem Verfassungsgericht die Frage der verfassungsrechtliche Legitimität des Artikels 12 des Migrationsgesetzes zu stellen. Der zweideutige und komplexe Wortlaut von Artikel 12 ist der Grund für viele Anschuldigungen, die im Laufe der Jahre gegen Aktivisten - von NGO-Schiffsbesatzungen bis hin zu Baobab-Mitgliedern oder Helfern von Transitreisenden in Ventimiglia und Triest - und Migranten erhoben wurden. Gleichzeitig drängen sie auf eine vorläufige Anrufung des Gerichtshofs der Europäischen Union in Bezug auf das "Facilitators Package", d. h. das Paket von EU-Vorschriften, das die gleiche Frage auf EU-Ebene regelt.

24.06.2023: Das Gericht hat die Anträge, die die Anwält*innen der Iuventa Crew gestellt hatten, abgehlent. Durch die Anträge wollten die Anwält*innen das Verfassungsgericht aufrufen die betreffenden italienischen Normen auf die Verfaussungsmäßigkeit zu überprüfen. Die nächste Anhörung ist für den 14. Juli 2023 in Trapani angesetzt.

Ausgewählte Presse- und Linksammlung:

Zum Fall:

Nach der Pressekonferenz (17.Mai):

Englisch/Italienisch:


Video: