13.05.2022

Solidarität von Migrant*innen ist Solidarität!

Legal Clinic Roma 3, borderline-europe, Iuventa crew

Am 20. Mai 2022 wird der Oberste Gerichtshof Italiens über die Zukunft von vier eritreischen Geflüchteten entscheiden, die der "Beihilfe zur unerlaubten Einreise" beschuldigt werden. Sie werden angeklagt, weil sie eritreischen Mitbürger*innen, die  auf der Flucht vor der ostafrikanischen Diktatur nach Italien, Solidarität gezeigt und Hilfe geleistet haben. Die Angeklagten haben zwischen 2016 und 2018 bereits zwei Jahre Untersuchungshaft verbracht, weil ihnen vorgeworfen wurde, Teil eines kriminellen Netzwerks für Menschenhandel zu sein. Dieser Vorwurf zerschlug sich im ersten Prozess, da weder die Beteiligung an einem kriminellen Netzwerk noch die Absicht, aus der Hilfe für Freund*innen und Verwandte Profit zu schlagen, nachgewiesen werden konnte.
Ein anderes Verfahren, das aus der Untersuchung in Rom hervorging fand in Palermo statt. Dabei wurde ein eritreischer Tischler fast drei Jahre lang unter dem Vorwurf inhaftiert, der Kopf eben dieser internationalen kriminellen Organisation zu sein - bevor sich herausstellte, dass die italienischen Behörden aufgrund einer Verwechslung den falschen Mann festgenommen hatten.
Trotzdem wird den vier Eritreern nach wie vor vorgeworfen, anderen Migrant*innen bei der Durchreise durch Italien in andere Länder geholfen zu haben. Damit ist Verhalten gemeint wie beispielsweise der Kauf von Zugtickets, Lebensmitteln, Kleidung oder die Bereitstellung einer Unterkunft für Menschen in Not. In vielen Fällen konnte die Beteiligung am Transit von Migrant*innen in andere Länder nicht nachgewiesen werden, während in anderen Fällen die ‚geschädigten Personen zugunsten der Angeklagten ausgesagt haben. Das, was durch die Einführung des Straftatbestands der Beihilfe zur unerlaubten Einreise "geschützt" wird, sind allerdings nicht Menschen, sondern nationale Grenzen.

Viele Ermittlungsverfahren, in denen Migrant*innen angeklagt werden, werden vom Gericht eingestellt oder die Anklage wird drastisch reduziert. Trotzdem erzielen diese Fälle oft das gleiche Ergebnis: die Kriminalisierung der Solidaritätsnetzwerke von Migrant*innen - Infrastrukturen der Solidarität, die es ermöglichen, Diktaturen und Kriegen, patriarchaler und kolonialer Gewalt zu entkommen, die die berechtigte Erwartung unterstützen, über das Schicksal des eigenen Lebens entscheiden zu können.

Dies ist dieselbe Logik, die die Solidarität in der Seenotrettung kriminalisiert. Selbst wenn die Verfahren mit Freisprüchen oder einer Reduzierung der Anklage enden, werden die Schiffe und ihre Besatzungen für Monate oder Jahre an Land blockiert. Am 21. Mai beginnt der Prozess, der aus Italiens größter Kriminalisierungskampagne gegen Seenotrettungs-NGOs resultiert, die mit der Beschlagnahmung der „Iuventa“ im Jahr 2017 begann und später auch die Schiffe von Ärzte ohne Grenzen und Save the Children betraf. Es ist auch dieselbe Logik, nach der Tausende von Migrant*innen als „boat driver“ kriminalisiert und verhaftet werden, denen vorgeworfen wird, Boote mit Flüchtenden über das Mittelmeer gesteuert zu haben.

 

In der Regel sind es jedoch nicht die Fälle von kriminalisierten Migrant*innen, die die Aufmerksamkeit der Medien erhalten, sondern die der europäisch Aktivist*innen an Land und auf See. Die Anklagen gleichen denen gegen Aktivist*innen der norditalienischen Gruppe "Linea d'Ombra" in Triest - ein Fall, in dem der Richter beschloss, das Verfahren einzustellen, da er anerkannte, dass der Kauf von Zugfahrkarten für Fahrten innerhalb Italiens keine Beihilfe zur unerlaubten Einreise oder einem Transit darstellt und dass der Beweggrund dafür Solidarität war. Ein ähnlicher Fall ist der der Aktivist*innen des Baobab-Zentrums, die am 3. Mai vom gleichen Vorwurf freigesprochen wurden, weil nach Ansicht des Richters der Tatbestand nicht erfüllt ist.

Was am 20. Mai entschieden wird, ist ein Prozess, der uns alle betrifft, denn Solidarität ist Solidarität, auch wenn sie von Migrant*innen gezeigt wird!
Solidarität ist ein politischer Akt, der sich gegen ein Grenzregime wendet, das Tausende von Toten an den europäischen Außengrenzen verursacht und strukturellen Rassismus innerhalb dieser Grenzen aufrechterhält. Wenn sich Migrant*innen mit anderen Migrant*innen solidarisieren, werden sie allzu oft mit Menschenhändler*innen gleichgesetzt - ein Feheler, der durch die fehlende öffentliche Aufmerksamkeit diese Prozesse  erleichtert. Die Entscheidung, die am 20. Mai getroffen wird, geht uns alle an, denn sie birgt die Gefahr, dass sich eine Interpretation des Grenzschutzes herauskristallisiert, die einmal mehr nationale Grenzen über die Solidarität mit dem Leben stellt.