Moria 2.0 & Angriffe auf Solidarität und Würde

Die Intensivierung von Nekropolitik und Entmenschlichung

Mytilini, 26. Oktober 2020 | von Salim Nabi - borderline-lesvos | Original report in English

Moria 2.0 - das gesamte Lager ist nach Regen überschwemmt

Der Philosoph der Aufklärung, Immanuel Kant, glaubte, man könne, zumindest philosophisch, zeigen, wie Freiheit möglich sei; diese Möglichkeit beinhaltete jedoch eine tiefe Verantwortung. Kant deckte auf, dass wir als handelnde Wesen zwar immer wählen können, Freiheit aber dennoch bedeutet, dass wir Verantwortung für unser Handeln, für unsere Seins- und Lebensweise übernehmen. Freiheit ist gekennzeichnet durch die Fähigkeit und Bereitschaft, sich selbst Gesetze aufzuerlegen. Und genau das ist es, was den europäischen Freiheiten heute fehlt - Europa versagt dabei, die Verantwortung für sein Handeln und seine Politik und deren Folgen für das Leben der Menschen zu übernehmen.

Willkürliche Verhaftung von sechs Personen nach dem Feuer in Moria

Nach dem mehrtätigen Brand im größten Flüchtlingslager Europas, Moria, wurden sechs junge Afghanen wegen Brandstiftung verhaftet. Die Verhaftungen und die Anschuldigungen basieren auf der Aussage eines "Gemeindevorstehers" aus einer ethnischen Gruppe, die historisch mit der Ethnie der Angeklagten verfeindet ist. Nach Aussagen des Anwalts des Angeklagten gibt es nicht mehr Beweise als die Aussage dieses Gemeindevorstehers. Die jungen Menschen, von denen mindestens drei minderjährig sind, wurden jedoch mit voller Härte behandelt: bis zu sechs Monate Untersuchungshaft bis zum eigentlich Prozess. Selbst der Staatsanwalt war wohl überrascht darüber, dass dies auch für die unbegleiteten Minderjährigen galt, denn im Allgemeinen sind Minderjährige von Untersuchungshaft ausgenommen. Aber es versteht sich von selbst, dass die Verhaftungen, Verhöre und die Untersuchungshaft politisch höchst aufgeladen und motiviert waren - der Staat suchte schlicht eine rasche Antwort auf die Frage nach der Brandursache.

In der Zwischenzeit veröffentlichte die BBC einen kurzen Dokumentarfilm, der versuchte, Grund und Ursache für das Feuer weiter auf den Grund zu gehen. Eine Gruppe namens ReFocus, die Video- und Fotografietraining für Geflüchtete anbietet, um diese in die Lage zu versetzen und zu befähigen, selbst über ihre Situation zu berichten, anstatt der stark voreingenommenen und verzerrten Mainstream-Medienberichterstattung, wurde von der BBC interviewt. Der Dokumentarfilm wirft ein neues Licht auf die Brandherde: Es stellt sich heraus, dass neben einigen Geflüchteten auch einige Einheimische an der Brandstiftung beteiligt gewesen sein könnten.

Der Dokumentarfilm ging mehr oder weniger viral, woraufhin zwei der ReFocus-Studenten von der Polizei im Camp schikaniert wurden und einer von ihnen zum Verhör vor das Gericht in Mytilene beordert wurde. In einem kurzen Gespräch, das ich mit ihm führte, sagte mir der junge Mann, dass sich die meisten Fragen darum drehten, warum er die örtliche Bevölkerung mithineingezogen hätte. Darüber hinaus fühlte er sich stark bedroht, einfach nur weil er seine Meinung geäußert und der BBC sein Filmmaterial und seine Beschreibung des Feuers zur Verfügung gestellt hatte. In seinen Worten: "Ich fühle mich terrorisiert, weil ich die Freiheit ausgeübt habe, das zu sagen, was ich weiß." Es ist nicht bekannt, ob gegen die beiden jungen Männer und die ReFocus-Gruppe Anklage erhoben wird, aber es ist klar, dass der Dokumentarfilm die gänzlich überstürzte und womöglich falsche Anklage des Staates aufgezeigt hat;

Der Film zeigte auch, dass die Verhaftungen eher den Charakter einer PR-Kampagne hatten als eine gründliche Untersuchung der Brandursache und -hergangs.

Die Geflüchteten ihrerseits strandeten nach dem Brand tagelang – einige bis zu sieben Tage – auf den von der Bereitschaftspolizei versiegelten und blockierten Straßen zwischen Kara Tepe und Moria. Zur gleichen Zeit erbaute eine lokale rechtsextreme Bürgerwehr ihre eigene Straßenblockade westlich des Lagers von Moria; diese wurde von der Polizei und den Behörden ignoriert. Nach dem Brand von Moria erfolgte dann eine neue Hölle für die Geflüchteten. Als das neue Lager in Kara Tepe gebaut wurde, setzten die Behörden verschiedene Techniken ein, um die Geflüchteten zum Umzug in das neue Lager zu zwingen. Das Migrationsministerium verwendete unter anderem soziale Medien, um den Geflüchteten mit der Annullierung ihrer Asylanträge zu drohen, wenn sie sich nicht in dem neuen Lager registrieren ließen. Die Geflüchteten ihrerseits befürchteten - nach dem 6-monatigen Lockdown in Moria -, dass das neue Lager ein geschlossenes Lager sein würde. Die Geflüchteten, die noch auf der Straße übriggeblieben waren, wurden schließlich von der Bereitschaftspolizei (MAT) in das neue Lager gebracht.

Moria 2.0

Die griechische Regierung unter Premierminister Mitsotakis war stolz auf den schnellen Bau des neuen Lagers; Luftaufnahmen, bei denen Drohnen zum Einsatz kamen, wurden in allen gängigen Medien sowie auf den offiziellen Regierungswebseiten und in sozialen Netzwerken ausgestrahlt. Auch das UNHCR nutzte Filmmaterial des neuen Lagers, um Spenden zu sammeln. Im Hintergrund des im Film sprechenden Mannes waren Sommerzelte zu sehen, die das UNHCR in Afrika und im Nahen Osten einsetzt, d.h. in warmen und trockenen Klimata. Die Zelte schienen nichts unter sich zu haben, so dass sich alle fragten, ob die Menschen auf nacktem Boden leben müssen. Das Lager hatte keine Duschen, nur sehr wenige mobile Toiletten, und es fehlten jegliche sanitären Kapazitäten, um die Ausbreitung von Covid-19 zu verhindern. Außerdem liegt das Lager auf einem Grundstück direkt am Meer, was bedeutet, dass die Luftfeuchtigkeit viel höher ist als im ehemaligen Lager Moria. Die Menschen vor Ort waren sich über die Aussichten der bevorstehenden starkregnerische Winterzeit im Klaren, aber sowohl die griechische Regierung als auch das UNHCR konzentrierten sich weiterhin darauf ihr Meisterwerk zu bewerben.

Dann kam der erste heftige Regen; das gesamte Lager wurde von Wasser überschwemmt. Überflutete Zelte und riesige Seen bildeten sich innerhalb des Lagers und verhinderten so den Zugang zu den wenigen mobilen Toiletten und Mülltonnen.

Eine Woche später überschwemmte der zweite Starkregen das Lager. Die Erklärung des Migrationsministeriums auf seiner offiziellen Facebook-Seite versicherte allen, dass die Arbeit mit "stetigem Tempo" voranschreitet – was auch immer das in diesem Zusammenhang bedeuten mag. Bis jetzt gab es keine angemessene Vorbereitung auf den kommenden Winter, der reich an heftigen und langanhaltenden Regenfällen, kalten Temperaturen und hoher Luftfeuchtigkeit ist.

Illegale Pushbacks durch die griechische Küstenwache und FRONTEX

In der Zwischenzeit betreibt die griechische Regierung eine de-facto-Politik der Push-Backs. Diese versucht sie zu vertuschen, indem sie jegliche Grenz-, Push-Back- und Menschenrechtsbeobachtungen beschuldigt und gegen sie ermittelt. Die jüngste Veröffentlichung eines Spiegel-Berichts deckte auf, dass die griechische Küstenwache und FRONTEX in illegale Pushbacks verwickelt sind. Dies stellt die jüngste Beschuldigung der griechischen Regierung gegen NGOs in Frage und wirft die Frage auf, inwieweit die Hexenjagd gegen Solidaritäts- und Menschenrechtsbeobachter*innen davon motiviert ist, die eklatant illegalen Handlungen der griechischen Küstenwache und FRONTEX zu vertuschen.

Die Freiheiten, einschließlich des wirtschaftlichen Wohlstands, die Europa seit langem genießt, sind auf Kosten der Menschen im Rest der Welt gekommen; Geflüchtete sind gerade das Ergebnis der jahrhundertelangen europäischen Politik gegenüber dem Rest der Welt.

Wenn heute Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten mit der berechtigten und gerechten Forderung nach dem Recht auf Leben nach Europa kommen, dann nur deshalb, weil die westliche Politik das Leben in diesen riesigen Landstrichen, aus denen die Menschen kommen, unmöglich gemacht hat. Und wenn wir uns an der aufklärerischen Definition von Freiheit lehnen, dann ist Europa nie frei gewesen; im Gegenteil, Europa hat es versäumt, der Definition von Freiheit gerecht zu werden, die ihm seine eigene "Aufklärung" gegeben hat. Es hat seine Freuden genossen, ohne die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen.

Und was Lesbos und der Rest des Mittelmeerraums zeigen, ist, dass die "europäischen Freiheiten" heute nicht nur auf Kosten der Menschen in Afrika und im Nahen Osten kommen, sondern auch auf Kosten des Lebens derjenigen, die vor den von der europäischen Politik geschaffenen Umständen fliehen. Sie kommt in Form des Ertrinkens im Meer, in Form der Pushbacks, in Form der Entmenschlichung in den Lagern. Und nicht zuletzt in Form der Hexenjagd, geführt gegen jene die versuchen, ihre Freiheit zu leben; die verstehen, dass man, die Verantwortung für die Folgen seiner Freiheiten und Freuden übernehmen muss, um frei zu sein. Nur ein pathologischer und psychotischer Mensch genießt seine Freuden und Genüsse auf Kosten des Wohlergehens und Lebens anderer. Ein freier Mensch ist nur insofern frei, als er sein Leben mit Respekt vor dem Recht und vor dem Raum für das Leben aller anderen – für alles Leben – genießt.

Heute ähnelt die europäische und westliche Politik gegenüber anderen Ländern und dem Planeten eins zu eins dem Verhalten eines pathologischen und psychotischen Serienmörders, der seine Freuden auf Kosten des Lebens anderer ausleben will. Und wenn die griechische Regierung die einzige Einrichtung für Geflüchtete, die ihren Bewohner*innen menschenwürdige Existenz, Unterkunft und Leben bietet – Pikpa – mit Schließung und Räumung bedroht, dann können wir dieses Verhalten und diese Politik nicht anders einstufen: es ist eine Politik, die von Pathologien durchsetzt ist und die Welten von der Bedeutung der Freiheit entfernt ist.

Lesen Sie auch Salims ersten Bericht: Asche des Versagens des Europäischen Humanismus

Solidaritätsstatement: The EU and Greek state are guilty – Solidarity with the imprisoned after the fire in Moria!