08.05.2022

Kheiraldin, Abdallah und Mohamad: #Paros3 zu ingesamt 439 Jahren Haft verurteilt, weil sie das Boot steuerten

Prozessbericht von Christina Karvouni, Aegean Migrant Solidarity und Julia Winkler, borderline-europe

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Am 05. Mai fand der Prozess gegen die #Paros3 auf der griechischen Insel Syros statt. Obwohl sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Richter*innen zustimmten, dass die drei Angeklagten weder die Schmuggler waren noch aus Gewinnstreben gehandelt hatten und auch keine Schuld am Tod der 18 Menschen trugen, wurden die drei Väter dennoch wegen "Beihilfe zur unerlaubten Einreise" verurteilt, was zu einer Strafe von 187 Jahren für den "Kapitän" und 126 Jahren für jeden der beiden "Helfer" führte.

Nach dem tragischen Schiffunsglück am Heiligabend 2021 nahe der griechischen Insel Paros Nach dem tragischen Schiffsunglück an Heiligabend 2021 in der Nähe der griechischen Insel Paros wurden der 39-jährige Kheiraldin A. und die 32-jährigen Abdallah J. und Mohamad B. als Schleuser verhaftet, weil sie das Boot gesteuert hatten (Mehr lesen). Seitdem sind sie im Gefängnis von Chios inhaftiert und haben keine ihrer Familienangehörigen gesehen.

Als Familienangehörige, Unterstützer*innen und Prozessbeobachter*innen am 05. Mai den Gerichtssaal betraten, saßen die drei Angeklagten mit Handschellen aneinander gefesselt im hinteren Teil des Saals. Nur zwei Familienmitglieder, der Bruder von Kheiraldin und der Onkel von Mohamad, hatten die notwendigen Papiere und die finanziellen Mittel, um nach Griechenland zu reisen und dem Prozess beizuwohnen. Am Vortag durften sie ihren inhaftierten Bruder bzw. Neffen nur zehn Minuten lang besuchen, und es war ihnen verboten, mit ihren Familien zu telefonieren. Zu Beginn des Prozesses wurden die drei Angeklagten nacheinander aufgerufen. Die Verhandlung begann um 9.45 Uhr, nur um sofort wieder unterbrochen zu werden, weil weder der einzige Zeuge der Anklage, ein Hafenpolizist, noch ein Dolmetscher für die Angeklagten anwesend waren. Das Gericht erwog eine Vertagung der Verhandlung, entschied sich aber dagegen und forderte einen Dolmetscher an.

Nachdem dieser eingetroffen war und die Verhandlung gegen 10.30 Uhr fortgesetzt wurde, beantragten die Anwälte der Angeklagten, die Anklage gegen ihre Mandanten zu ändern. Diese waren nicht nur wegen "Beihilfe zur unerlaubten Einreise" angeklagt, weil sie das Boot gesteuert hatten, sondern auch wegen "Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung" und "Verursachung eines Schiffbruchs" und damit der Verschuldung des Todes von 18 Menschen. Folglich drohte ihnen die unfassbare Strafe von 18 Mal lebenslänglicher Haft. Die Verteidigung forderte, dass die Anklagepunkte der kriminellen Vereinigung und der Verursachung eines Schiffbruchs fallen gelassen werden. Sie betonte, dass es keinerlei Beweise dafür gebe, dass die drei die Reise organisiert und aus Gewinnstreben gehandelt hätten. Im Gegenteil, sie seien aufgrund ihrer finanziellen Situation in diese Lage gezwungen worden.

Es wurden sechs Zeug*innenaussagen anderer Passagier*innen des Schiffes verlesen, in denen diese ausgesagt hatten, dass nicht die drei Angeklagten, sondern andere die Überfahrt organisiert und das Geld von ihnen erhalten hätten. Außerdem wiesen die Anwälte darauf hin, dass die in den Zeug*innenaussagen der Passagier*innen erwähnten Spitznamen der Schmuggler auch in anderen Prozessen aufgetaucht waren.
Anschließend wurden die beiden Familienmitglieder angehört. Sie gaben Auskunft über die schwierigen Lebensbedingungen für Syrer*innen in der Türkei, die individuellen Geschichten der Angeklagten und die großen finanziellen Schwierigkeiten, denen diese ausgesetzt sind.

Der dritte Zeuge der Verteidigung, ein Seenotretter, der aufgrund seiner Erfahrungen aussagte, bestätigte, dass es gängige Praxis ist, dass Flüchtende das Boot selbst steuern müssen, da diejenigen, die eigentlich Geld damit verdienen, sie nicht fahren, da sie weder verhaftet werden noch ihr Leben riskieren wollen. Vor allem in den letzten zwei Jahren habe die Zahl der besonders gefährlichen Überfahrten von der Türkei nach Italien stark zugenommen.

Die drei Angeklagten gaben in ihren Zeugenaussagen an, dass sie nur zugestimmt hatten, das Boot zu steuern, weil sie die 7.000 bis 10.000 Euro, die die Reise kostete, nicht bezahlen konnten. Alle drei hatten gehofft, den sich für sie und ihre Kinder verschlechternden Lebensbedingungen in der Türkei und der zunehmend drohenden Abschiebung nach Syrien zu entkommen, dem Land, aus dem sie vor Massakern und der Rekrutierung in die Armee geflohen waren. Insbesondere Kheiraldin beschloss, sein Leben für seine Tochter zu riskieren, die dringend eine medizinische Behandlung benötigt, die sie in der Türkei nicht erhalten kann. Sie sagten außerdem aus, dass sie vor der Reise tagelang in einem vergitterten Haus festgehalten wurden, das von bewaffneten Personen bewacht wurde. Als sie den Zustand des Bootes und die Zahl der Menschen an Bord sahen, weigerten sie sich, dieses zu steuern, wurden aber mit Drohungen gegen sie und ihre Familien gezwungen.

In seinem Schlussplädoyer erklärte der Staatsanwalt, dass die drei Angeklagten laut dem Gesetz der "Beihilfe zur unerlaubten Einreise von Drittstaatsangehörigen unter Gefährdung von Menschenleben" schuldig zu sprechen seien. Zur Überraschung aller betonte er jedoch, dass das Gesetz an sich problematisch sei, da es Fälle wie den der Angeklagten nicht berücksichtige, die gezwungen seien, sich selbst und andere in andere Länder zu bringen und nicht aus Gewinnstreben handelten. Er erklärte daher, dass er mildernde Umstände anerkennen würde und empfahl, die Angeklagten vom Vorwurf der "Verursachung eines Schiffbruchs" und der "kriminellen Vereinigung" freizusprechen. Die Richter*innen entschieden entsprechend. Die Anerkennung mildernder Umstände, das Fehlen von niederen Beweggründen und keine Vorstrafen bewahrten die Angeklagten vor lebenslangen Haftstrafen. In Fällen, in denen es um den Verlust von Menschenleben bei einem Schiffsunglück geht, werden solche Anklagen nur selten fallen gelassen. Durch die Vermeidung lebenslanger Haftstrafen haben die Angeklagten eine größere Chance, ihre Strafe im Berufungsverfahren zu reduzieren.

Kheiraldin wurde als "Kapitän" zu 187 Jahren verurteilt, Mohamad und Abdallah als "Helfer" zu 126 Jahren. Diese Strafen wurden für den "Kapitän" wie folgt festgesetzt: 10 Jahre Grundstrafe für die ‘schwere Straftat’ und 3 Jahre zusätzlich für jede Person an Bord des Bootes (59 Personen). Also 10+ 3 x 59 = 187 Jahre. Für die beiden "Helfer" wurde das Strafmaß wie folgt festgelegt: 8 Jahre als Grundstrafe für die ‘schwere Straftat’ und 2 Jahre für jede Person an Bord des Schiffes (59 Personen). Also 8+ 2 x 59 = 126 Jahre.

Die drei legten gegen das Urteil Berufung ein.

Am selben Tag erfuhr Mohamad, dass sein Vater von Assads Truppen hingerichtet worden war. "Mohamad weiß nicht, woran er jetzt denken soll, an seinen Vater oder an seine Kinder", sagte sein Onkel Abdulsalam B.. Als die Familienmitglieder die drei nach dem Prozess besuchten, durften sie sie weder berühren noch umarmen. Abdallahs Mutter in Syrien, die am Telefon war, durfte nicht mit ihrem Sohn sprechen.Abdallah, Kheiraldin und Mohamad wurden in das Gefängnis von Chios zurückverlegt. Dort können sie weder von ihren Kindern noch von ihren Ehefrauen besucht werden, da sie in der Türkei und in Syrien leben und nicht nach Griechenland reisen dürfen.


Osama A., Bruder von Kheiraldin: "Mein Bruder hatte dreimal versucht, Griechenland auf dem Landweg zu erreichen, aber er wurde jedes Mal gewaltsam zurückgepusht. So beschloss er schließlich, ein Boot zu nehmen und sein eigenes Leben zu riskieren, um seine Tochter zu retten. Es gibt viele Opfer wie Kheiraldin. Die wahren Schleuser gehen nie auf ein Boot. Europa muss die Tür für Flüchtende öffnen, damit sie nicht geschleust werden müssen."

Abdulsalam B., Onkel von Mohamad: "Das war kein fairer Prozess. Sie haben die Opfer verurteilt. Mohamads Frau fiel fast in Ohnmacht, als sie die Nachricht hörte. Wer wird nun ihre Familien unterstützen? Das Gericht hat auch die Familien verurteilt."

Christina Karvouni, Aegean Migrant Solidarity: "Obwohl dieser Prozess einige positive Elemente aufweist, die in anderen ähnlichen Fällen nicht zu finden sind, wie zum Beispiel die Anerkennung, dass die Angeklagten auch Opfer der gegen sie erhobenen Vorwürfe sind, liegt das Problem im Gesetz selbst. Es ist ein weiteres Gesetz, das Migration mit hohen Strafen kriminalisiert und diejenigen, die vom Leid und der Not der Migrierenden profitieren, unbehelligt lässt. Dieses Gesetz muss sofort geändert werden, denn es zerstört das Leben von Menschen, die unschuldig sind."

Julia Winkler, borderline-europe: "Drei Menschen werden zu über 100 Jahren Haft verurteilt, obwohl sich Verteidigung, Staatsanwaltschaft und Richter*innen einig sind, dass alles, was sie getan haben ist, ein Boot mit anderen Flüchtenden gesteuert zu haben. Dieser Prozess macht besonders deutlich, dass das Problem weder der Missbrauch noch die falsche Auslegung des Gesetzes ist, sondern das Gesetz selbst, und dass es genau dafür gemacht wurde, um diejenigen zu kriminalisieren, die es angeblich schützen soll - Menschen, die migrieren."

Oda Becker, Can't Evict Solidarity:  "Das Urteil ist grausam und leider kein Einzelfall. Wir sehen zahlreiche Fälle, in denen Schutzsuchende willkürlich und unschuldig zu langjährigen Haftstrafen verurteilt werden. Diese Praxis und die illegalen Push-Backs von Migrierenden, die seit langem Teil des unmenschlichen EU-Grenzregimes sind, werden immer brutaler. Am 18. Mai findet in Samos der Prozess gegen einen Vater statt, dessen Sohn bei der Überfahrt ertrunken ist. Ihm drohen nun bis zu 10 Jahre Haft wegen Gefährdung des Lebens seines Kindes. Wir stehen solidarisch an der Seite der Angeklagten. Migration ist kein Verbrechen!”
                  
Sascha Girke, Iuventa: "Während wir, die Iuventa-Crew und alle anderen europäischen Seenotretter*innen, viel Aufmerksamkeit und Unterstützung bekommen, wenn wir für unsere Einsätze kriminalisiert werden, ist es Alltag in europäischen Gerichten und kaum eine Schlagzeile wert, wenn Menschen auf der Flucht für viele Jahre ins Gefängnis kommen, nur weil sie ein Boot gesteuert haben, mit dem sie sich und andere nach Europa gebracht haben. Dieses legalisierte Unrecht muss ebenso wie die Kriminalisierung von Solidarität in den Fokus des politischen Kampfes rücken."

Dimitris Choulis, eine der Anwälte der Paros3: "Unsere (unschuldigen) Mandanten werden zu insgesamt 439 Jahren Gefängnis verurteilt und wir müssen es als ‘Gewinn’ verbuchen - das ist der Wahnsinn der drakonischen Gesetze der Festung Europa. Selbst wenn sie die besten Absichten haben, werden die Gerichte weiterhin unschuldige Menschen zu Tausenden von Jahren verurteilen, bis die Gesetze geändert werden. Die Festung Europa bringt den Tod und die Inhaftierung der Vulnerabelsten. Wir brauchen eine Änderung der Gesetzgebung. Asyl zu suchen ist kein Verbrechen."

Aegean Migrant Solidarity, borderline-europe, Can't Evict Solidarity und die Iuventa-Crew werden Kheiraldin, Mohamad und Abdallah und ihre Familien in ihrem Berufungsverfahren und in der Zwischenzeit weiter unterstützen.

Wir fordern ihre sofortige Freilassung aus dem Gefängnis, Freiheit für alle, die wegen Steuern eines Bootes verhaftet wurden, und ein Ende der Kriminalisierung von Migration und der Inhaftierung von People on the Move!

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Die drei Väter hatten versucht, Italien auf direktem Weg zu erreichen, um griechisches Territorium und damit gewaltsame und illegale Push-Backs zu vermeiden bzw. nicht auf den griechischen Inseln festzusitzen. Da sie nicht in der Lage waren, die besonders teure Reise zu bezahlen, erklärten sich die drei Männer bereit, das Boot mit etwa 80 anderen Menschen zu steuern und dafür im Gegenzug einen günstigeren Fahrpreis zu erhalten. In der Nähe der griechischen Insel Paros kenterte das Boot, was zum Tod von 18 Menschen führte. Anstatt nach diesem traumatischen Erlebnis psychologisch betreut zu werden, wurden Kheiraldin, Abdallah und Mohamad verhaftet.
 


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Montag, 08 Mai 2022
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