45. Sitzung des Permanent Peoples' Tribunal zu den Rechten von Geflüchteten und Migrant*innen

Das Recht auf Gesundheit

von Julia Türtscher

Vom 23-25. Oktober 2020 fand die Berliner Anhörung der 45. Sitzung des Permanent Peoples Tribunal zu den Rechten von Geflüchteten und Migrant*innen statt. Das Permanente Völkertribunal (Permanent Peoples‘ Tribunal, PPT) blickt zurück auf eine langjährige Geschichte seit den ersten Tribunalen gegen die Menschenrechtsverletzungen im Vietnamkrieg in den 70ern. Die 45. Sitzung des PPTs widmet sich den Menschenrechtsverletzungen gegenüber Geflüchteten und Migrant*innen in Europa und trägt den Titel "Violations with Impunity of the Human Rights of Migrant and Refugee Peoples".

Wir waren Teil des Bündnisses zur Ausrichtung des zivilen Menschenrechtstribunals, dieses Mal mit dem Fokus auf das Recht auf Gesundheit für Migrant*innen und Geflüchtete.


Die gesamte Veranstaltung wurde live gestreamt und kann hier nachträglich abgerufen werden.

Zugang zu Gesundheit als Menschenrecht

Das Recht auf das erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit ist ein Menschenrecht. Als Grundlage für die Menschenwürde, für einen angemessenen Lebensstandard und in enger Verknüpfung mit weiteren sozialen Rechten, ist das Recht auf Gesundheit in zahlreichen internationalen wie nationalen Rechtsdokumenten verankert. Die gegenwärtige Asyl- und Migrationspolitik Deutschlands sowie der EU und ihrer Mitgliedstaaten verwehrt dieses Recht Migrant*innen und Geflüchteten jedoch fortlaufend und an zahlreichen Stellen.

Das Tribunal begann am Freitag mit einem starken Auftakt in den ersten beiden Themenblöcken zum Zugang zu Gesundheitsversorgung in Deutschland und Europa:

Fatuma Musa von United Action e.V berichtete über die Bedeutung von Information und Wissen, insbesondere für Frauen und Mädchen, um umfassende gesundheitliche Versorgung sicherzustellen. Medibüro Berlin und Medinetz Mainz schilderten die Situation hunderttausender Menschen, die in Deutschland aufgrund der diskriminierenden rechtlichen Lage keine Versicherung haben und somit über keinen oder nur stark eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung verfügen. Karsten Dietze von Handicap International wies auf die gravierenden Missstände in der Versorgung von Geflüchteten mit Behinderungen hin, die insbesondere in der Identifizierung der besonderen Bedarfe dieser vulnerablen Gruppe liegen. Diese Unsichtbarmachung hat zur Folge, das schlichtweg nicht auf die entsprechenden Bedarfe eingegangen wird. LesMigras berichteten aus ihrer Erfahrung in der Beratungsarbeit über die mehrfache psychische Belastung und die Hürden im Zugang zu psychischer Gesundheitsversorgung für LGBTIQ+ Personen of Colour und Geflüchtete.

Schließlich sprachen CoraSol über Forderungen nach Integration, die von Ausgrenzung und Rassismus begleitet werden: „Als Schwarze, als Migrant*innen, haben wir dieses Recht auf freie Meinungsäußerung nicht. […] Deine Meinung zählt nichts.“

Es folgten Berichte über die katastrophale Situation für Personen in Sammelunterkünften oder undokumentierte Personen in UK, die sich durch die Covid-19 Pandemie zusätzlich verschärfte, sowie über die praktischen Hindernisse zum theoretisch gegebenen Zugang zum Gesundheitssystem in den Niederlanden.

Von europäischen Grenzen, an denen Gesundheit keine Rolle spielt

Den Abschluss des ersten Tages stellte das Hearing zur EU Grenzpolitik dar, in dem Philip Ishola für Love146 die langfristigen, verletzenden Auswirkungen der diskriminierenden Asylpolitik insbesondere für Kinder und Jugendliche verdeutlichte. Zuletzt stellte Muhammad al-Kashef vom Alarmphone die herausragende Rolle heraus, die Deutschland durch das Bereitstellen von Material, Fahrzeugen, Trainings und Finanzierung für die Externalisierung der EUropäischen Grenzen spielt.

Der zweite Tag der Anhörung begann mit Berichten von Ärzten und Ärztinnen, die die entwürdigenden Zustände für Geflüchtete auf den griechischen Inseln schilderten, die sich durch den Brand in Moria nur noch verschlimmert haben. Amelia Cooper vom Legal Center Lesvos berichtete über die traumatischen Erfahrungen aufgrund der enorm hohen Ablehnungsrate bei Familienzusammenführung aus Griechenland: „Diese Ablehnungen basieren häufig auf Gründen, die im besten Fall fadenscheinig, im schlimmsten Fall rechtswidrig sind.“

Von ihren persönlichen Erfahrungen im Camp berichteten Sohrab Shirzad, der mit gebrochenem Bein sich selbst überlassen wurde, und Mazoma Rezaie, der ihre Epilepsie-Erkrankung nicht geglaubt wurde und deren Behandlung dementsprechend verweigert wurde.

In einem weiteren Bericht schilderte Maryam von Stand by me Lesvos den Zustand der mangelhaften Gesundheitsversorgung auf Lesbos, das Fehlen der Unterstützung für Menschen mit Behinderungen und das fehlende Vertrauen von Patient*innen. All dies hat direkte Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroffenen. Das bestätigte auch das Statement aus dem Pikpa Camp, ebenfalls auf Lesbos. Stress und die mentalen Belastungen, denen Menschen durch ausbleibende oder ablehnende Antworten auf ihre Asylanträge ausgeliefert sind, wirkt sich sowohl in physischen als auch psychischen Erkrankungen aus. An Europas Außengrenzen werden die realen Auswirkungen der Europäischen Politik besonders deutlich: “If we are talking about healing and health we must talk about policies – that are against healthy people and that are creating, actually, mental health and health problems.”

Die Rolle politischer Entscheidungen stand auch im darauffolgenden Hearing zur Kriminalisierung von Solidarität im Mittelpunkt. Im Bericht von borderline-europe vor dem Tribunal lag der Fokus auf der gezielten Blockade von zivilen Search-and-Rescue Schiffen sowie von Monitoring- und Aufklärungsmissionen auf See und in der Luft durch Kriminalisierung.

"The government must be held accountable"

In den anschließenden beiden Anhörungen wurde der Blick wieder nach Deutschland gerichtet. Die verletzenden und krank-machenden Effekte von Rassismus und Ausgrenzung wurden in Berichten von Black Visions and Voices deutlich. Zu belastenden Erfahrungen kommt verstärkend hinzu, dass in der medizinischen wie psychologischen Ausbildung nach wie vor kaum bis gar nicht auf Rassismus-bezogene Problematiken eingegangen wird und Menschen mit Rassismus-Erfahrung stark unterrepräsentiert sind.

Traumatisierende Erfahrungen mit Polizeigewalt waren zentraler Gegenstand der nächsten Zeugenaussage. Es folgte der Vortrag des Flüchtlingsrats Berlin über einen besonders schockierenden Fall, bei dem ein junger Geflüchteter Opfer einer rassistisch-motivierten Attacke trotz spezieller Regelung für derartige Fälle, trotz des laufenden Verfahrens gegen den Täter und psychischer Erkrankungen aufgrund des traumatisierenden Angriffs nach Afghanistan abgeschoben wurde. Die Initiative zum Gedenken an Oury Jalloh präsentierte außerdem die Chronologie des Todes von Oury Jalloh, der 2005 in einer Gefängniszelle in Dessau verbrannte und dessen Tod bis heute nur äußerst lückenhaft aufgeklärt ist, und insbesondere des dubiosen Verlaufs des Aufklärungsprozesses seither.

Die Auswirkungen der deutschen Asylpolitik auf die Gesundheit der Migrant*innen und Geflüchteten standen auch am Nachmittag des zweiten Anhörungstages im Zentrum. In mehreren Berichten, u.a. aus Mecklenburg-Vorpommern und Bayern, berichteten Betroffene von den enorm belastenden Lebensbedingungen in Massenunterkünften. Es wurde von offen ausgetragenen Konflikten berichtet, dem Bruch der Privatsphäre durch unerlaubtes Betreten der Zimmer und der grundsätzlich unangemessenen Unterbringungsart für Kinder. Guillermo Thompson, der versuchte, die Bedingungen mit Videos festzuhalten, sah sich immer wieder Repressionen ausgesetzt. Er forderte in seiner Aussage: „Die Regierung muss zur Rechenschaft gezogen werden! – Für alle Geflüchteten. Sie haben das Recht zu migrieren. In Sicherheit zu sein.“

Die Gruppe Monitoring of Deportations at Airports aus Nordrhein-Westfalen schilderte nach einem kurzen Bericht zur allgemeinen Situation zwei Fallbeispiele für Abschiebungen, bei denen die Betroffenen in beiden Fällen trotz äußerst schlechtem Gesundheitszustand als „fit to travel“ eingestuft wurden und damit als abschiebefähig. Bei einem der beiden Fälle handelte es sich um einen Suizidversuch am Tage der Abschiebung – nach Verarztung der Wunden wurde der Betroffene nach Afghanistan abgeschoben.

Das letzte Hearing der Berliner Sitzung schließlich widmete sich der Situation von migrantischen Arbeiter*innen, deren Situation sich in diesem Jahr insbesondere durch die Pandemie zusätzlich verschärfte. Dazu berichtete Angie García von Waling Waling aus der Perspektive migrantischer, meist weiblicher, Hausangestellten in UK und Carolina Elías für SEDOAC aus Spanien. Über die harschen Arbeits- und Lebensbedingungen für Arbeiter*innen in der Landwirtschaft und die dazu führende Politik der Illegalisierung berichteten Emilie Loison von La Confédération de Paysanne du Morbihan sowie ein Vertreter der SOC-SAT Gewerkschaft in Almería. Zuletzt trug Giulia Trattarini von Berlin Migrant Strikers ein Statement von ALSO Oldenburg zur Situation von migrantischen Arbeiter*innen in Deutschland vor.

Ein vorläufiger Abschluss

Der Sonntagvormittag begann mit einem Input-Panel zum geplanten neuen EU-Migrationspakt, dem zufolge die Abschottung und Militarisierung der europäischen Grenzen nur noch weiter voran getrieben werden sollen. Zum Abschluss der Berliner Anhörung folgten kurze, vorläufige Statements der Jury Mitglieder, in denen sie Bezug auf die Berichte und Aussagen der beiden vorherigen Tage nahmen.

„Die Berichte von Geflüchteten und ihren Unterstützer*innen zeichnen ein erschreckendes Bild der deutschen und europäischen Migrationspolitik,“ resümiert beispielsweise die Jurorin Sarah Lincoln. „Viele Geflüchtete sind krank und brauchen besonderen Schutz. Stattdessen werden sie wie Menschen zweiter Klasse behandelt, ohne Privatsphäre, ohne Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung, ohne Verfahrensrechte“.

Die Urteilsverkündung der aus neun Wissenschaftler*innen, Journalist*innen, Ärzt*innen und Jurist*innen zusammen gesetzten Jury fand am 16. Dezember 2020 statt. Das vollständige Urteil ist hier nachzulesen: https://equalhealth4all.noblogs.org/de/verdict/

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28. Dezember 2020